Von Auerbach zu Auerbach : Untersuchungen zur Literatur des Realismus Rolf Selbmann

Nicht-luxemburgisch

Der Begriff „Realismus“, der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Schlagwort der literarischen Diskussion avancierte, benennt ein Thema, das bis heute virulent ist: das Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit. Heutzutage wird der Begriff auf zwei Arten verwendet: erstens als stiltypologische Kategorie, die Werke in Film, Malerei, Fotografie und Literatur umfasst, die sich durch eine besonders betonte Wirklichkeitstreue auszeichnen. Zweitens bezeichnet er die literarische Epoche, die in Deutschland auf Biedermeier und Vormärz folgte, etwa mit der gescheiterten Revolution von 1848 einsetzte und gegen Ende des Jahrhunderts durch den Naturalismus abgelöst wurde.

Rolf Selbmanns Untersuchungen verfolgen unter dem Titel Von Auerbach zu Auerbach zwei Ansätze, um das Einzigartige dieser historischen Phase hervorzuheben. Zum einen betrachtet er den deutschen Realismus als ein umfassendes Phänomen der damaligen „Moderne“ und verweist dabei auf den Literaturwissenschaftler und Romanisten Erich Auerbach (1892–1957). In seinem Werk Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946) analysiert Auerbach die Entwicklung der realistischen Darstellung der Wirklichkeit in der europäischen Literatur von der Antike bis zur Moderne und hat damit die Literaturgeschichte und -theorie maßgeblich geprägt. Forderungen nach der Darstellung des Wirklichen in der Kunst finden sich bereits bei Aristoteles unter dem Begriff der Nachahmung der Natur, der Mimesis. Seit der Wiederentdeckung seiner Poetik in der Renaissance wurde in Europa über Wirklichkeitsnachahmung diskutiert. Aber was genau ist das Neue am Begriff „Realismus“ des 19. Jahrhunderts, der im Deutschen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sehr spät einsetzte, und was unterscheidet ihn vom hergebrachten Begriff der Mimesis? Und wie lässt sich das philosophische Problem lösen, nämlich die prinzipielle Frage, ob es eine objektiv existierende Realität überhaupt gibt?

Selbmann veranschaulicht seine theoretischen Überlegungen exemplarisch an ausgewählten Texten, die die Eigenart des deutschen Realismus in besonderem Maße transparent werden lassen. Er analysiert Texte von Autoren wie Eduard Mörike, Gottfried Keller, Theodor Fontane, Georg Büchner sowie Thomas Mann und bietet präzise Einzelbeobachtungen und Deutungsvorschläge. Dabei beleuchtet er die Stile, Themen und Motive realistischer Literatur und stellt sowohl Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen des deutschen Realismus als auch die teils fließenden Übergänge zu nicht realistischen Werken heraus. Der Autor prüft stets die Verwendbarkeit des Begriffs „Realismus“ aus unterschiedlichen Perspektiven.

Diesen zweiten Ansatz verortet er beim realistischen Erzähler Berthold Auerbach (1812–1882), dessen Schwarzwälder Dorfgeschichten als mustergültige Erfüllung der Kernprinzipien realistischer Literatur galten und maßgeblich zur Entstehung eines deutschsprachigen literarischen Realismus beitrugen. Die in Berthold Auerbachs Buch Schrift und Volk. Grundzüge der volksthümlichen Literatur (1846) formulierten Grundsätze der Idealisierung und „Verklärung“ der Wirklichkeit erscheinen als Axiome des späteren Realismus und als wegweisende Vorläufer realistischer Techniken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Durch die Textexegese werden der jeweilige politische, gesellschaftliche und ökonomische Kontext sowie die ideengeschichtlichen Voraussetzungen des literarischen Realismus deutlich. Die Untersuchung schließt konsequenterweise mit einer Hommage an den (realistischen) Text: „Als Erkenntnisobjekte bieten diese Texte genauere Einblicke in ihre Zeit als die historischen Quellen. Denn sie liefern zeitlos anthropologisches Wissen über Grundsätzliches, das darüber hinausreicht.“

Ein Buch, das sich in erster Linie an Studierende und Fachleute richtet, durch seine leserfreundliche Darstellung jedoch allen Interessierten einen Zugang ermöglicht.

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