‘Jong-Letzeburgs’ Taktgeber Julien Hoffmann zum 100. Geburtstag
Faszinierende Einblicke in ein Musikerleben, das heute fast in Vergessenheit geraten ist: Ein Blick auf den Nachlass von Julien Hoffmann zu seinem 100. Geburtstag.
Kindheit und musikalische Ausbildung
Julien Josef Ludwig Hoffmann wird am 31. Mai 1924 in Luxemburg-Stadt geboren. Sein Vater, Maurice Bernhard Nicolas Hoffmann, ursprünglich aus Montreuil-Paris, heiratet am 21. März 1923 Susanna Anna Maria Goerres. Ein Jahr später wird Julien Hoffmann geboren, getauft wird er am 17. Juni 1924 in der St. Michaelskirche.
Bereits als Kind interessiert sich Julien für Musik, allerdings ist sein Vater gegen eine musikalische Ausbildung. Mit der Unterstützung seiner Mutter tritt Julien in den 1930er Jahren schließlich in das Konservatorium der Stadt Luxemburg ein und wird Schüler von Louis Petit (Solfège) und Pëppi Beicht (Klavier). Später kamen außer weiteren theoretischen Fächern auch Cello und Fagott als Zweit- und Drittinstrumente hinzu.
Von 1938 bis Mai 1940 ist Julien Hoffmann als Organist und Sänger in der Redemptoristen-Kirche in Luxemburg-Stadt tätig; in der Maîtrise Sainte-Cécile de la Cathédrale de Luxembourg ist er bis zu seiner Zwangsrekrutierung aktiv. Sein Leben ist gänzlich auf Musik ausgerichtet, und er will Pianist werden.
Zwangsrekrutiert in die Wehrmacht
Der Zweite Weltkrieg macht Julien Hoffmanns Zukunftspläne zunächst zunichte. Durch die Zwangseingliederung Luxemburgs in das Gau Moselland am 30. August 1942 werden Tausende Luxemburger in die Wehrpflicht zwangsrekrutiert. Betroffen sind zunächst junge Männer, die zwischen 1920 und 1924 geboren sind.
Julien Hoffmann wird am 22. Mai 1943 in die Wehrmacht eingezogen und nach Potsdam in die erste Stammkompanie, eine Ausbildungseinheit für Soldaten, des Grenadier-Ersatz-Bataillons 9 eingegliedert. In der erhaltenen Feldpost kommen vor allem die Sehnsucht nach Heimat und Familie einerseits und die Angst einer Mutter um ihren Sohn andererseits zum Ausdruck.
Nach seiner Ausbildung in der Stammkompanie wird Julien Hoffmann dem Musikkorps II im Grenadier-Ersatz-Bataillon 9 zugewiesen. Dort spielt er die kleine Trommel.
Während Julien Hoffmanns Zwangsrekrutierung kommt der sogenannten Truppenbetreuung in der Wehrmacht eine wichtige Rolle zu. Die Militärmusiken haben vor allem die Aufgabe, die Soldaten zu erheitern und bei Laune zu halten. Dementsprechend großzügig fällt die personelle Situation aus; zwischen 1935 und 1945 soll es circa 900 bis 1.000 Musikkapellen geben, deren jeweilige Mitgliederzahl zwischen 23 und 40 Musikern liegt.
Die Militärmusiker spielen bei Kameradschaftsabenden, Regiments- und Bataillonsfeiern, zudem bilden die Orchestermitglieder Unterhaltungskapellen. Allgemein wird ein breit gefächertes Repertoire aufgeführt, das von aktuellen Filmmusiken, über Schlager bis hin zu sinfonischer Musik und Kammermusik reicht. Selbst Kirchenkonzerte werden organisiert. Einige der Musiker treten auch als Vokal- und Instrumentalsolisten auf.
So findet sich im Nachlass von Julien Hoffmann ein Sammelheft mit verschiedenen Klaviernoten mit dem Zusatz „organise’ert zu Berlin, no engem Bombardement. Januar 44.“
Obwohl die musikalischen Fähigkeiten der Militärmusiker geschätzt werden, gelten sie trotzdem als schlechte Soldaten: Hilfssanitäter, Boten, Späher oder Verpfleger gelten als Drückeberger, die sich dem Kampf an der Front entziehen. Zum Ende des Krieges hin werden immer mehr Musiker an die Front geschickt. Viele von ihnen haben kaum Kampferfahrung und lediglich eine rudimentäre militärische Ausbildung.
Während seiner Zeit in der Wehrmacht zieht sich Julien Hoffmann eine Kriegsverletzung am mittleren Finger der linken Hand zu, so dass er eine Weile in Flüelen-Altdorf (CH) im Lazarett weilte.
Julien Hoffmann datiert das Ende seiner Zwangsrekrutierung auf den 19. Juni 1945. Die Zeit des Krieges reflektiert er in mehreren seiner Kompositionen, unter anderem in der Hymne Les sacrifiés (1997), auch Tambower-Lidd genannt, das den in Russland gefangenen Zwangsrekrutierten gewidmet ist, und dem Lied So in fremder Stadt verloren (1949).
Neuanfang nach dem Krieg
Wie gestaltet sich ein Neuanfang nach einer so einschneidenden Zeit wie der Zwangsrekrutierung während des Zweiten Weltkriegs? Julien Hoffmann knüpft dort an, wo er aufgehört hatte: bei seiner musikalischen Ausbildung als Pianist.
1947 nimmt er Klavierunterricht bei Richy Muller und erlangt den 2. Preis. Gleichzeitig ist er Privatschüler des Organisten Albert Leblanc. 1949 erhält er in Brüssel den 1. Preis. Zeitgleich versucht Julien Hoffmann sich in Luxemburg als Musiker zu etablieren. Direkt nach seiner Rückkehr aus dem Internierungslager gründet er mit Johny Pleger (1913-1988) das Hémechtstheater. 1948 gibt Julien Hoffmann Klavier- und Solfègeunterricht. In diese Zeit fallen ebenfalls seine ersten Kompositionen wie Krëschtdag (1947) und Vereinslidd vun der J.E.C. (Jeunesse Étudiante Chrétienne, 1948).
Trotz solcher Bemühungen muss Julien Hoffmann einsehen, dass aufgrund seiner Kriegsverletzung eine Karriere als professioneller Pianist nicht mehr in Frage kommt. Deshalb entscheidet er, sich stattdessen dem Gesang zu widmen. Neben seinem Studium beim Komponisten Gustave Simon am Konservatorium in Luxemburg nimmt er ebenfalls Unterricht bei Sibylle Fuchs in Saarbrücken. In Sommerkursen bei Prof. Dr. Ernst Reichert am Mozarteum in Salzburg legt er den Schwerpunkt auf das Lied und das Oratorium. Von seinem Aufenthalt in Salzburg profitiert er zudem, um Komposition und Dirigieren beim Domkapellmeister Joseph Messner zu lernen.
In Salzburg begegnet er seiner ersten Frau, Marianne Kargl (09.10.1923-?). Sie arbeitet in einem Geschäft für Herrenaccessoires als kaufmännische Angestellte und verkauft Julien Hoffmann bunte Fliegen, die sein Markenzeichen sind. Die zivile Trauung findet am 14. Juli 1954 in Luxemburg statt, die kirchliche eine Woche später in Österreich. Aus der Ehe gehen eine Tochter, die Sängerin Marie Anne, genannt Yannchen, Hoffmann, und ein Sohn, Julien Hoffmann jr. hervor.
Beruflich etabliert sich Julien Hoffmann als Musiklehrer an den Gymnasien der Stadt Luxemburg: in der Handwerkerschule von 1951 bis 1988, im Lycée des Jeunes Filles von 1956 bis 1969, im Lycée des Garçons, im Lycée Michel Lucius und im Athénée Grand-Ducal, dessen Schulorchester er gründet. 22 Jahre lang unterrichtet Julien Hoffmann ebenfalls am hauptstädtischen Konservatorium als Suppléant Klavier.
Julien Hoffmann erweist sich dabei als vielfältiger Musiker: Als Dirigent ist er bei den Chören Fräiheet in Gasperich, Roude Léiw in Howald, Caecilia in Walferdingen und von 1951 bis 1966 beim Männerchor Sang a Klang in Pfaffenthal tätig; als Organist wirkt er in Hamm von 1948 bis 1958 und in der St. Michaelskirche von 1958 bis 1988.
Aus diesem Engagement entstehen etliche Chorstücke und Orchesterkompositionen, wie etwa Le’f Consolatrix (1966), D’Briedemësser Lidd (1970), Ons Stât Letzeburg (1998) und die Marche Grand-Duc Henri für Harmonieorchester (2000).
Chorale Jong-Letzeburg
Am 6. Januar 1966 gründet Julien Hoffmann den Jugendchor Jong-Letzeburg. Die Idee dazu gab der Chor Jung Wien, der im Jahr zuvor unter der Leitung von Prof. Leo Lehner, einem Freund von Julien Hoffmann, in Luxemburg gastierte. Der gemischte Chor – eine Revolution zu jener Zeit – setzt sich zunächst aus etwa 30 Sängerinnen und Sängern aus dem Meedercherslycée und dem Stater Kolléisch zusammen.
Was zunächst als Schulprojekt startet, professionalisiert sich zusehends: Die Mitgliederzahlen steigen auf bis zu 65 Personen. Willkommen sind junge Leute zwischen 15 und 35 Jahren, auch Berufstätige werden aufgenommen. Julien Hoffmann legt bei seiner Tätigkeit als Dirigent Wert auf Fleiß, Musikalität, Haltung und Ausdruckskraft, sowohl beim Gesang wie bei der Mimik. Die zwei bis drei wöchentlichen Proben im Stadttheater, in intensiven Probephasen sogar noch mehr, zeigen erste Resultate.
Am 13. Januar 1968 gibt Jong-Letzeburg sein erstes Galakonzert im Stadttheater. Es ist zu diesem Zeitpunkt durchaus nicht üblich als Luxemburger Chor in einem Konzertsaal aufzutreten; die meisten Gesellschaften agieren auf Amateurniveau und singen auf Dorffesten oder in der Kirche. Der Anspruch des Professionalismus, den Julien Hoffman an Jong-Letzeburg erhebt, ist neu.
Das Repertoire von Jong-Letzeburg beschränkt sich anfangs auf österreichische Chorliteratur, nach dem Vorbild von Jung Wien. Aufgrund der Schwierigkeiten, in Luxemburg ein Repertoire aufzubauen – französische Chorstücke sind zu schwer, deutsche sind zu heimatbetont und durch den vaterländischen Bezug in Luxemburg seit dem Zweiten Weltkrieg nicht salonfähig – springt Julien Hoffmann ein: Er beginnt, für den Chor zu komponieren und zu arrangieren. Besonders treten hervor das Trei, ursprünglich komponiert von Madeleine Marson-Steichen (1922-2017) und für Chor bearbeitet von Julien Hoffmann und L’Amour de moy, Arrangement eines französischen Chorliedes aus dem 16. Jahrhundert.
Das Galakonzert im Januar 1968 bedeutet den Durchbruch des Chores: Die Kritiken überschlagen sich mit Lob. Jong-Letzeburg ist nun sowohl im In- wie auch im Ausland gefragt. Es folgen Konzertreisen nach Belgien, Frankreich, Deutschland, Österreich, Jugoslawien, Großbritannien, in die Schweiz und die Niederlande sowie Fernsehauftritte mit Dalida (1969) und im österreichischen ORF (1978).
Besondere Höhepunkte des Chores sind die Auftritte beim Staatsbesuch der Königin Juliana der Niederlande im Jahr 1971 und beim Besuch des österreichischen Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger sowie die Konzerte im großherzoglichen Palast 1976, eines davon zu Ehren des Staatsbesuches von Queen Elisabeth II.
1977 veröffentlicht Jong-Letzeburg erstmalig eine Platte. Sie enthält einen Querschnitt des breit gefächerten Repertoires des Chores und wird rund 1800 Mal verkauft. Es folgt eine weitere Platte beim Label Luxembourg Sound, vermutlich nach 1980.
Julien Hoffmann dirigiert den Chor Jong-Letzeburg 25 Jahre lang, bis zum 6. Januar 1991, bevor er zum Ehrendirigenten ernannt wird.
Für seine Verdienste wird Julien Hoffmann in einer Privataudienz am 22. Juni 1979 von Großherzog Jean der Orden Chevalier de l’Ordre de Mérite civil et militaire d’Adolphe Nassau überreicht. 1988 tritt Julien Hoffmann in den Ruhestand.
Nach dem Tod seiner Frau Mariandl in den 80er Jahren kommt seine kompositorische Tätigkeit vorläufig zum Erliegen. Erst durch die Heirat am 31. Juli 1993 mit Nelly Baas nimmt Julien Hoffmann seine kreative Tätigkeit wieder auf. Nach einem unglücklichen Sturz, der ein geplatztes Aneurysma zur Folge hat, verstirbt Julien Hoffmann am 6. Juni 2007 unerwartet im Krankenhaus.
▪ Eine Auswahl an Dokumenten zu Julien Hoffmann ist in den Vitrinen vor dem Rara-Lesesaal im ersten Stock bis zum 30. April 2024 ausgestellt.
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