Der Streit um die Verbotslisten Zur NS-Bibliothekspraxis in Luxemburger Bibliotheken
In NS-Deutschland erschienen ab 1935 die regelmäßig überarbeiteten „Listen des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“, die von der Reichsschrifttumskammer herausgegeben wurden und die Grundlage für Beschlagnahmungen in Bibliotheken, Leihbüchereien und Buchhandlungen darstellten. Sie enthielten jegliches Schrifttum, das als regimefeindlich eingestuft wurde, d. h. welches „das nationalsozialistische Kulturwollen gefährde“, wie es in der Anordnung des Präsidenten der Reichsschrifttumskammer hieß. Darunter fielen u. a. alle Werke jüdischer Autoren, die Bücher von Emigranten sowie pazifistische und marxistische Literatur.
Diese Listen wurden auch in Luxemburg angewandt. Im Gegensatz zu anderen besetzten Gebieten in Europa wie Estland und Lettland gab es keine spezifische „luxemburgische“ Liste. Von den Luxemburger Autoren war die Satire Die Limmburger Flöte von Norbert Jacques auf der reichsdeutschen Liste vermerkt. Wie in NS-Deutschland galt die Liste auch im Gau Moselland als „[s]treng vertraulich! Nur für den Dienstgebrauch“ wie es auf der Titelseite der Ausgabe zum Stand 1938 vermerkt ist, die in der Landesbibliothek aufbewahrt wurde. Dass diese Ausgabe überhaupt den Weg in die damalige Nationalbibliothek gefunden hatte, ist nicht selbstverständlich, wie man hätte vermuten können, sondern das Ergebnis eines wegweisenden kulturpolitischen Streits, den zwei reichsdeutsche Bibliothekarinnen aufs Erbittertste austrugen. Die beiden Protagonistinnen waren die Berliner Bibliothekarsinspektorin Elisabeth Raddatz und die Düsseldorfer Bibliothekarin Gerda Mertz.
Reichspropagandaamt vs. Verwaltung
Raddatz folgte ab 15. Januar 1942 Wolfram Brockmeier im Amt des Schrifttumsbeaufragten, welches von der Luxemburger Außenstelle des Reichspropagandaamtes (RPA) geschaffen worden und anfangs für die Beschlagnahmungen von Bibliotheken verantwortlich war. Raddatz galt als überzeugte Nationalsozialistin, die im Dienste des Propagandaministeriums tätig war und dabei streng und willkürlich nach Gutdünken wirkte und entschied, was „Schmutz und Schund“ sei. Ihr wurde bescheinigt, dass „die Literatur, die durch den augenblicklichen Krieg bedingt als unerwünscht gilt – also die der Feindstaaten – als ‚Verbot‘ anzusehen“ sei (Aktennotiz vom 06.02.1942, BnL). Mertz arbeitete in der Nationalbibliothek und war der verlängerte Arm von Rudolf Hilgers, Kommissar für das Bibliothekswesen in der Verwaltung der höheren Kommunalverbandangelegenheiten (KVA) des CdZ. Sie war überzeugt, dass auch verbotene Literatur in einer wissenschaftlichen Bibliothek aufzubewahren sei. Der Streit der beiden Kontrahenten war ein stellvertretender Kampf zwischen zwei NS-Einrichtungen um die Deutungshoheit der Bibliothekspraxis: „wir kamen in eine etwas erregte auseinandersetzung“, berichtet Mertz in einer Aktennotiz vom 13. Mai 1942 (BnL).
Das RPA wurde von Albert Perizonius, kulturpolitischer Strippenzieher nach 1940 in Luxemburg, geleitet. Dieser war zugleich stellvertretender Leiter der Abteilung V der Zivilverwaltung und Generalbeauftragter des Stillhaltekommissars, so dass er faktisch die einflussreichste Funktion in der Umgestaltung und Verwaltung des Luxemburger Kulturwesens nach nationalsozialistischer Ideologie in den Jahren 1940-1941 innehatte (vgl. Marc Limpach, Die Kulturpolitik im besetzten Luxemburg, 2020, S. 118). Das RPA hatte sich zum Ziel gesetzt, flächendeckend ›Volksbüchereien‹ einzurichten, um mit der nationalsozialistischen Umerziehung zu beginnen. Dieses Vorhaben wurde mit Unterstützung der Gesellschaft für deutsche Literatur und Kunst (Gedelit), die sich in den ersten Monaten der Okkupation zur Dachorganisation aller kultureller Vereinigungen entwickelt hatte, rasch umgesetzt, so dass von April bis Anfang Mai 1941 ein wahrhaftiger Eröffnungsmarathon von 23 öffentlichen Bibliotheken zur „Befruchtung des luxemburgischen Raumes mit deutscher Kultursaat“ (Nationalblatt 07.04.1941) begann, auf den bis Ende des Jahres die Eröffnung von 46 Dorfbüchereien folgte. Dem Schrifttumsbeauftragten, der am Gängelband des RPA arbeitete, oblag es, »alle notwendigen Massnahmen zur Vereinheitlichung der Landesbibliothek und zur Einrichtung der Volksbüchereien in Luxemburg« zu erlassen (11.02.1941, ANLux, CdZ-A-6641, Bl. 57). Zu seinen Aufgaben gehörten zudem die »gesamte Neuordnung des Büchereiwesens und alle das Schrifttum und den Buchhandel betreffenden Fragen« (10.02.1941, ANLux, CdZ-A-6641, Bl. 58) sowie die Beschlagnahmungen oder die Zusammenstellung von Titellisten zur Luxemburger Geschichte und Kultur aus der Zeit vor dem 10. Mai 1940.
Zuständigkeitstreitgkeiten
Friktionen mit dem RPA entstanden recht bald, da Rudolf Hilgers eine andere Bibliothekspolitik verfolgte. Sein Anliegen war es, die Nationalbibliothek durch Zusammenlegung der staatlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken zu einer einzigen wissenschaftlichen Landesbibliothek auszubauen. Als die Beschlagnahmungen im Herbst 1940 begannen, hatte sich die bibliothekspolitische Aufgabenteilung zwischen RPA und CdZ noch nicht etabliert. Im Winter 1940, als sich die CdZ-Struktur festigte, waren die Handlanger des RPA bereits so übereifrig am Werk, dass sie sogar verbotene wissenschaftliche Literatur beschlagnahmten, obgleich diese regulär den Beständen der Landesbibliothek hätten zugeführt werden sollen. Zugleich liefen die Beschlagnahmungen teils weniger gut geordnet ab als geplant und die Verlistung dauerte so lange und war im Einzelnen so verworren, dass es für die CdZ-Verwaltung und für das Reichspropagandaamt nicht mehr überprüfbar war, was alles beschlagnahmt wurde. Insbesondere Elisabeth Raddatz, die sich berufen fühlte, die ideologische Entscheidungsinstanz zu sein und sogar Bücher beschlagnahmte, die nicht auf Verbotslisten standen, sträubte sich zuweilen, wissenschaftliche Bücher in die Landesbibliothek zu überführen. Vor allem aber kam es zu wiederholten und teils vehement ausgefochtenen Zuständigkeitsrangeleien zwischen dem CdZ und dem Reichspropagandaamt bezüglich der Kompetenzen bei den Beschlagnahmungen. Hilgers vom CdZ etwa beschwerte sich in einem Brief vom 6. November 1942 bei Rudolf Kummer in Berlin über die „Ansprüche des Reichspropagandaamtes auf selbstständige Sichtung sowie Entfernung des unerwünschten und verbotenen wissenschaftlichen Schrifttums aus den Beständen der Landesbibliothek“ (Bundesarchiv R 4901/13703). Rudolf Kummer war eine der Schlüsselfiguren der nationalsozialistischen Bibliothekspolitik, Ministerialrat im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und zuständig für das Generalreferat für das Bibliothekswesen und vor allem für das wissenschaftliche Büchereiwesen. Kummer erfuhr jedenfalls in regelmäßigen Abständen vom Streit zwischen Raddatz und Mertz, die auf eine so offene Art aneinandergerieten, dass Beschwerdebriefe zum Alltag wurden und RPA und CdZ nach außen zeigten, wie uneins sie waren.
Die Sichtungsarbeiten im Cercle-Gebäude etwa, wo die Bestände von 11 konfiszierten Ordensbibliotheken sowie Borromäusvereins- und katholischen Vereinsbibliotheken aufgestellt waren, unterstanden anfangs Raddatz, bevor Gerda Mertz später die Verantwortung übernahm. Immer wieder flammte der Streit um die verbotene Literatur neu auf. Kummer gestand zwar zu, dass „unerwünschtes und verbotenes Schrifttum“ dem Zuständigkeitsbereich des RPA zuzuordnen sei und alsbald sekretiert werden müsse, „keinesfalls aber einer Entfernung dieses Schrifttums aus der Bibl. zugestanden werden darf, da es zu den Aufgaben der wissenschaftlich. Bibliotheken gehört, auch dieses Schrifttum zu sammeln.“ (Bundesarchiv R 4901/13703) Dieses Urteil war geradezu salomonisch, da es Raddatz weiter erlauben konnte, einzelne Titel zu skartieren, sofern sie nicht die Bestände der Landesbibliothek betrafen. Aber ob ein politisches Buch nicht doch in den Bestand einer wissenschaftlichen Bibliothek gehörte, darüber gab es erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Jedenfalls war man beim RPA verärgert darüber, dass die Werke von Rathenau, Engels, Lassalle oder Kautsky sowie die Zeitschrift Das neue Tagebuch als wissenschaftliche Literatur an die Landesbibliothek abgegeben werden mussten. Meinungsverschiedenheiten gab es unentwegt, da keine grundsätzliche Entscheidung z.B. darüber gefällt wurde, welche Luxemburgensia verboten wäre oder nicht.
Verbotslisten
Die Verbotslisten hätten die Sichtungs- und Inventararbeiten bei wissenschaftlichen Publikationen erleichtern können. Aber der Zugriff darauf war auf geradezu groteske Art und Weise reguliert. Absurd war es, dass die Verwaltung der höheren Kommunalverbandangelegenheiten (KVA) des CdZ zwar ab 1942 ein Erstrecht auf Sichtung des beschlagnahmten Materials zugestanden wurde, der Bibliothekarin Gerda Mertz aber keinerlei Verbotslisten zur Verfügung standen, mit denen sie die Bestände hätte abgleichen können. Verzweifelt merkte sie in einem Brief an Hilgers vom 7. Januar 1942 an: „Ich bin der Meinung, dass man versuchen sollte, von irgendeiner zustaendigen Stelle diese Verbotslisten zu erhalten, damit [w]ir selber die not[wendige Kontrolle haben. […] Auch die Landesbibliothek hat keine Unterlagen, die vollständig wären u. entscheidet gefühlsmässig, über das, was ausgeliehen werden darf, u. was nicht. Man enthält ihr die erforderlichen Listen vor, erwartet aber auf der anderen Seite, das sie sich nach ihnen richtet.“ (BnL). Elisabeth Raddatz, die sehr wohl im Besitz dieser Listen war, ließ der Landesbibliothek naturgemäß keine Kopien zukommen.
Es ist offensichtlich, dass es in Luxemburg bis Ende des Krieges keine Einigkeit darüber gab, was unter verbotener Literatur zu verstehen sei. Raddatz entschied eigenmächtig, was als solche zu gelten habe oder nicht. Sie sei, so Gerda Mertz in einem Brief an Hilgers vom 7. Januar 1942, „inkonsequent, so dass sie heute eine[n] Autor als ‚verboten‘ bezeichnet, von dem sie vor ein paar Tagen behauptete, dass er ‚nicht schlecht‘ sei und zur Rosenberg-Spende gelegt werden könnte.“ (BnL). Der Streit zwischen RPA und CdZ wurde trotz schriftlich dokumentiertem Vereinbarung vom 13. Januar 1942, die als eine Art Friedensbeil, zumindest aber als geschäftliche Grundlage für ein gegenseitiges Auskommen gelten durfte, nie wirklich beigelegt. Darin war beschlossen worden, dass beschlagnahmte Bücher dem Verantwortungsbereich der Verwaltung der höheren Kommunalverbandangelegenheiten (KVA) des CdZ zugewiesen würden und dass Mertz und ihre Hilfskräfte Verzeichnisse anzufertigen hätten. Das „verbotene und unerwünschte Schrifttum aller Art“, insbesondere auch aus „Juden- und Emigrantenbüchereien“ gehen an das Reichspropagandaamt.
NS-Machtgerangel
War es für das RPA ein Anliegen, so viele Bücher wie möglich als politisch-unerwünscht oder verboten einzustufen, versuchte das CdZ mit allen Mitteln so viele Bücher wie möglich für die Landesbibliothek zu retten. Die entscheidende Phase von Herbst 1940 bis Herbst 1942 ist von profilierungsneurotischen und machtpolitischen Bestrebungen beider Akteure gekennzeichnet, der in NS-Deutschland bekannten und geförderten Polykratie, die dadurch entstand, dass die Bibliothekspolitik und -praxis je nach Partei- und Verwaltungsinteressen in unterschiedlichen Händen lag und das Gegeneinander von einzelnen Abteilungen und Personen sich zuweilen im Arbeitsalltag stärker bemerkbar machte als Verordnungen und Beschlüsse. War Mertz etwa im Cercle-Gebäude nicht anwesend, verschaffte sich Raddatz zumeist Zutritt, so dass sie von höherer Instanz wiederum aus dem Saal begleitet werden musste. Folglich ließ Hilgers kurzerhand ein neues Sicherheitsschloss an den Türen des Cercle-Magazins befestigen, um Elisabeth Raddatz den Zugang zu verwehren. Es mutet an wie ein Treppenwitz der Geschichte, dass beschlagnahmte Bücher hinter Schloss und Riegel gehörten, damit die Bestände vor dem RPA und der Gestapo gesichert wurden. Albert Urmes, Oberbereichsleiter der NSDAP, war entsprechend erbost und warf Hilgers zudem vor, dass die unter Mertz arbeitenden „luxemburgische[n] Volksgenossen“ „keineswegs die Gewähr dafür bieten, das gesamte verbotene Schrifttum in unserem Sinne sichten und bearbeiten zu können“. Und er drohte mit einer Intervention aus Goebbels Ministerium: „Es wäre ausserordentlich peinlich, wenn zur Klärung dieser Angelegenheit das Ministerium selbst vorstellig werden müsste.“ (Brief vom 16.09.1942 an Siekmeier, BnL). Am Ende musste das RPA klein beigeben, aber der Streit um die Verbotslisten und die zu beschlagnahmenden Bücher endete im administrativen Kleinkrieg. Treffend fasste der stellvertretende Kommissar der Verwaltung der höheren Kommunalverbandangelegenheiten (KVA) des CdZ Helmut Blech die Zwistigkeiten zusammen: „dies ewige streiten macht mich verrueckt.“ (Notiz an Rudolf Hilgers, 29.08.1942, BnL)
Erschienen in Die Warte, 15. Dezember 2022, S. 6f.
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