„ … einer der führenden Intellektuellen in Luxemburg“ Vor 130 Jahren wurde Staatsminister und -bibliothekar Pierre Frieden geboren

Sammlung zur Luxemburger Bibliothekslandschaft und Buchgeschichte

Jean-Marie Reding

Neben Jacques Santer (*1937) gehört Pierre Frieden (*28. Oktober 1892 - †23. Februar 1957) zu den beiden wenigen gebürtigen Ost-Politikern des 20. Jahrhunderts, die es hierzulande bis zum Premierminister Luxemburgs geschafft haben. Allerdings war der Winzersohn Frieden zugleich der letzte Nicht-Jurist in diesem Amt seit 1959. Der Gymnasiallehrer für Philosophie in Echternach, danach in Luxemburg, beschäftigte sich lebenslang als Bildungs- und Familienpolitiker mit der sozialen Herkunft der Schüler und setzte sich für die Entstehung von intellektuellen katholischen Eliten zum Weiterbestehen demokratischer Regierungsgebilde ein.

In diesem Artikel soll an seine Taten im Buch- und Bibliothekswesen Luxemburgs erinnert werden. Eine Vorarbeit wurde bereits in einem LW-Artikel vom 23. Februar 2009 geleistet. Seine Ernennung zum "professeur-bibliothécaire", so hieß der damalige Titel des Luxemburger Nationalbibliotheksleiters, erfolgte am 25. Januar 1929. Bis August 1929 folgten mehrere Studienreisen in ausländische Nationalbibliotheken. Im Jahre 1930 gründete er in der ca. 120.000 Bände zählenden „Bibliothèque nationale“ den „Fonds national“, den heutigen Luxemburgensia-Fonds, als Abspaltung vom nicht-luxemburgischen „Fonds général“.

Bis 1940 blieb Frieden in erster Linie Gymnasiallehrer, indes mehr "professeur" als "bibliothécaire". Er war oft Mitglied von Examenjurys und vor allem ein gefragter Redner, sogar auf Radio Luxemburg. In seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Professorenberufsverbandes von 1934 bis 1940 besuchte er deutlich mehr internationale Bildungs- als Bibliothekskongresse. Dank seines zu Ministerehren gelangten Berufskollegen Nicolas Margue (*1888-†1976) konnte er einige positive gewerkschaftliche Ziele erzielen, z.B. eine Unterrichtsstundenreduktion, die Festsetzung von Klassenschülerbegrenzungen oder die Lösung der hierarchischen Reihenfolge (ordre des préséances) der Staatsbeamten beim offiziellen Te Deum. Allerdings machten dem Berufsverbandspräsidenten und Bibliotheksleiter die Auswirkungen der 1928er Weltwirtschaftskrise schwer zu schaffen. Die Forderung nach mehr Gehalt für Professoren war in den 1930er Jahren nicht möglich. Ab 1933 wurde der Haushalt der Nationalbibliothek gar um ein ganzes Drittel gekürzt. Zu dieser Zeit konkurrierte diese außerdem mit drei anderen staatlichen wissenschaftlichen Bibliotheken (Gewerbe-, Lehrer- und Regierungsbibliothek) in Luxemburg-Oberstadt.

Friedens politische Ansichten konnten schon damals klar als christlich-konservativ beschrieben werden. Im damals mediatisierten „Asa-Prozess“ gegen die Buchhändler Emil Marx und Otto Barth-Lang von Februar-März 1931 vertrat der Buchfachmann Frieden als offizieller Gutachter die moralische Ordnung (ordre moral) bewahrende Gegenseite. Asa war eine aus Deutschland importierte Zeitschrift, die es wagte, Bilder von anscheinend nicht für jedermann ausreichend bekleideten Sportlerinnen abzudrucken. Die angeklagten libertären Buchhändler gewannen jedoch den Prozess.

Revue, 15. Jg., N°10, 07.03.1959, p. [23]

Bibliothekarkarriere

Spätestens ab dem Bibliothekstag des 12. November 1931 war Frieden Mitglied des Diözesanausschusses des katholischen Volksvereins zum Bibliothekswesen und war zuständig für die Koordination der flächendeckend verteilten über 100 katholischen Volksbibliotheken. Ebenso war seine fachliche Expertise ab 1936 in der nationalen Commission nationale de coopération internationale (CNCI) des UNESCO-Vorgängers, dem Institut international de coopération intellectuelle (IICI) in Paris, gefragt, sowie ab 1938 in der Commission ayant pour mission de rechercher les publications tombant sous l'application de la loi interdisant l'entrée au Luxembourg de publications étrangères obscènes. Letztere wurde bereits 1939 von Batty Weber spöttisch als „Obszönitätskommission“ betitelt und mitsamt den von ihr generierten Erlassen per Arrêté des 19. September 1975 aufgehoben. Eine Presseauswertung aus dieser Zeit offenbart: Jeder Luxemburger wusste das Einfuhrverbot über Jahrzehnte zu umgehen, indem erotische Zeitschriften privat im nahen Ausland (Trier, Longwy, Arlon, etc.) erworben wurden.

Da es im Großherzogtum keine gesetzliche Pflichtabgabe für Bücher gab (dépôt légal) und vermutlich infolge der Weltwirtschaftskrise und den budgetären Folgen für die Nationalbibliothek, bat Frieden 1932 per Pressemitteilung um kostenlose Belegexemplare von „Nationalliteratur“. Er sorgte dafür, dass bei der 1937er nationalen Bücherwoche die Nationalbibliothek als einzige Vertreterin ihrer Bibliothekszunft mit dabei war. Der damals 76jährige nationale Literaturpapst Batty Weber dankte in seiner Rede „ganz besonnesch dem Här Staatsbibliothekar Frieden, den de retrospektiven Deel vun onser Ausstellung zu engem wirkleche Bijou gemaat huet.“ (LW, 7. Januar 1937).

"Staatsbibliothekar" Pierre Friedens wohl stolzester Moment in seiner Karriere muss der 5. März 1936 gewesen sein, als Großherzogin Charlotte und Prinz Felix der Nationalbibliothek einen offiziellen Besuch abstatteten. So konnte Frieden „die neugeschaffene Abteilung des "Fonds national", in der die gesamte luxemburgische Literatur von den Anfängen luxemburgischer Druckerei bis auf die neuesten Werke zusammengestellt wird“, vorstellen (OMZ, 7. März 1936). Zur Unabhängigkeitsfeier 1939 plante Frieden „une bibliographie systématique et complète de notre littérature nationale“ (Catalogue général / BnL ; 04), die erst 1990 als retrospektive „Bibliographie luxembourgeoise 1939“ erscheinen sollte.

Nach dem Streik des 31. August 1941 gehörte Frieden zu den etwa 1.800 Luxemburgern, die ihre Mitgliedskarte der Volksdeutschen Bewegung (VdB) zurückgesandt hatten, was bedeutete, dass er seine Arbeitsplatzgarantie aufkündigte (ANLux, MEN 1013, Personalakte "Peter Frieden"). Am 04. September 1941 folgte prompt die Verhaftung. Dadurch dass er, so Friedens persönliche Überzeugung, im Verhör unnachgiebig blieb, was er in seinen autobiographisch geprägten Aufzeichnungen Fritz Endres thematisierte (1945, S. 24ff), landete er schließlich im Konzentrationslager Hinzert (in deutschen Akten verniedlicht „Erziehungslager“ genannt). Einer Akte des Bundesarchivs Berlin (R4901/13703, Blatt 28, S. [1], 06.11.1942, Landrat [Rudolf] Hilgers an Ministerialrat Dr. [Rudolf] Kummer [*1896-†1987]) zufolge wurde Frieden laut dem Leiter der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Luxemburg, Fritz Hartmann (*1906-†1974), vor allem deshalb festgesetzt, „weil er, als einer der führenden Intellektuellen in Luxemburg gilt.“ In Hinzert war der schmächtige Frieden vom 18. September bis 03. November 1942 eingesperrt. Nachdem er krankheitshalber aus dem KZ entlassen wurde, verbrachte er den Rest des Nazi-Regimes unter Hausarrest in Luxemburg und war nicht, wie aktenmäßig zuerst vorgesehen, in ein rechtsrheinisches Gebiet versetzt worden, sondern konnte bibliothekarische Arbeiten für die Landesbibliothek erledigen. Mehr Details sind im Artikel „Der Gestapo-Prozess“ (LW, 27. Dezember 1949) zu finden. Gewürdigt wurden Friedens Taten sogar in Deutschland, nämlich 2017 in Ulrich Hohoffs Personenlexikon „Wissenschaftliche Bibliothekare als Opfer in der NS-Diktatur“.

Trois cent cinquantième anniversaire de sa fondation / Athénée grand-ducal de Luxembourg. - [S.l.] : [s.n.], 1955, p. [5]

Ab 1945

Als vom 20. November bis 10. Dezember 1946 die erste Generalkonferenz der 1945 gegründeten United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) in Paris stattfand, gehörte der Bibliotheksexperte Frieden zur luxemburgischen Delegation. 1947 wurde das Großherzogtum offiziell UNESCO-Mitglied. Bis heute, manchmal mehr oder weniger prioritär behandelt, bleiben Bibliotheken im Fokus der internationalen Organisation, vor allem die öffentlichen Bibliotheken, die früher Volksbibliotheken genannt wurden. Inhaltlich zeitlos erscheinende Manifeste prägen die Anfangsjahre der UNESCO-Bibliothekspolitik. The public library. A living force for popular education erschien bereits im Mai 1949; ein weiteres Manifest erschien 1994, dessen Teile weltweit in viele Bibliotheksgesetzesinitiativen und -gesetze eingeflossen sind – so auch in Luxemburg (2007-2010). Das jüngste Ifla-Unesco Manifesto for public libraries stammt übrigens vom 18. Juli 2022.

Nach dem Rückzug von Premierminister Joseph Bech (CSV, Amtszeiten 1926-1937 & 1953-1958) aus der Politik, schaffte es Pierre Frieden (CSV), ab dem 29. März 1958 das Amt des Premierministers mit dem des Nationalbibliotheksleiters in einer Person zu vereinen, was zweifellos bis heute einzigartig ist. In Österreich brachte es „lediglich“ Parlamentsbibliothekar, Jurist und Sozialdemokrat Karl Renner (*1870-†1950) zum Bundespräsidenten. Man kann in Luxemburg und Österreich leidlich darüber streiten, welches Amt bedeutender sein mag. Ein Vergleich der Biographien jedenfalls belegt, dass Frieden gegenüber dem Nationalsozialismus, im Gegensatz zu Renner, eine politisch einwandfreie Integrität vorzuweisen hat.

In Friedens Bibliothekspolitik gab es einen Fixpunkt, nämlich dass eine Nationalbibliothek keine „öffentliche Bibliothek“, sondern eine durchgängig wissenschaftliche Bibliothek sein muss: „Elle est avant tout une bibliothèque de chercheurs, non pas d'amateurs de roman.“ (Parlamentssitzung des 18.11.1958) Erwähnen wir unbedingt Bildungsminister Friedens bibliothekshistorisch bekannteste Aussage während der Kulturinstitutsdebatte im Parlament am 29. März 1955 (33. Sitzung, Sp. 1312), wonach er sich an einer ähnlichen Äußerung von Anatole de Monzie orientierte: „Quand on nous demandera compte de notre gestion gouvernementale, nous montrerons nos bibliothèques.“ Ein Satz, der an den Bibelspruch erinnert: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“ (Mt, 7:16)

Im Memorial des 19. Dezember 1958 erschien das erste Rahmengesetz zur Nationalbibliothek und zum Staatsarchiv in der Geschichte unseres Landes. Nicolas Margue hatte Vorarbeit geleistet, doch der „national librarian“, so der bis heute international geläufige Titel für Nationalbibliotheksleiter Pierre Frieden, setzte das Gesetz schließlich durch: Loi du 5 décembre 1958 ayant pour objet l'organisation de la Bibliothèque Nationale et des Archives de l'Etat. Damit wurde auch die Pflichtabgabe von Druckwerken (dépôt légal) offiziell eingeführt.

Wie schwierig die Einführung dieses wichtigsten Erwerbungsmittels war, zeigt die wenig rühmliche Vorgeschichte: Frieden hatte mit Hilfe von Justizminister René Blum bereits 1939 erfolglos versucht, diese wichtige Maßnahme zur systematischen Sammlung des gedruckten Kulturerbes per Erweiterung des 1869er Pressegesetzes durchzusetzen. Doch der damalige Staatsrat verweigerte seine Zustimmung (12. April 1940). Der Ansatz, per Pressegesetz die Pflichtabgabe durchzusetzen, mag juristisch falsch gewesen sein. Historisch rückwirkend beurteilend geschah dies „leider“ knapp einen Monat vor der deutschen Invasion am 10. Mai 1940. So implementierten die Nazis schließlich die erste „Verordnung über die Abgabe der Freistücke von Druckwerken an die Landesbibliothek Luxemburg vom 6. Juli 1943“. Für die nationale Kulturgeschichte Luxemburgs gilt vor allem die Kernaussage vom 1958er-Gesetzesberichterstatter Nicolas Margue im Parlament am 18. November 1958 (5. Sitzung, Sp. 133): „Endlech! Enfin! Je voudrais en effet exprimer ma satisfaction d’avoir enfin à discuter ce projet qui est en route depuis une dizaine d’années. […] Il est bien évident qu’un pays civilisé doit avoir des instituts culturels.“

Revue, 15. Jg., N°10, 07.03.1959, p. [23]

Für den 1. Februar 1959 standen Nationalwahlen an. Staatsminister und -bibliothekar Pierre Frieden wollte natürlich wiedergewählt werden. Doch ausgerechnet vor diesen Wahlen sorgte der schlimmste Bucharbeiter-/Druckerstreik unserer Landesgeschichte dafür, dass drei bis vier Tage (26.-28./29. Januar 1959) keine Tageszeitungen erscheinen konnten. Obschon die CSV fünf Sitze verlor, blieb sie dennoch stärkste Partei. Frieden war wiedergewählt worden. Anscheinend auf dem Weg der Besserung jedoch starb er, laut LW-Titelseite (24. Februar 1959), völlig unerwartet am 23. Februar 1959 um 19.10 Uhr in einem Krankenhaus in Zürich. Sein Nachfolger wurde Pierre Werner (*1913-†2002).

Im Luxemburg-Stadtviertel Kirchberg existiert ein Boulevard Pierre Frieden (Sitz von RTL). Demnächst soll im neuen Wohnviertel Kirchberg-Kuelebierg ein Platz „Porte Frieden“ entstehen. Vielleicht wird ja eines Tages eine Stadtviertelbibliothek nach einem der „führenden Intellektuellen“ des Landes des 20. Jahrhunderts benannt.

Erschienen in Die Warte, 20. Oktober 2022, S. 4.

Zum letzten Mal aktualisiert am