Im Schatten des Renert Michel Rodanges vergessenes Gedichtmanuskript D’Léierchen
Kaum ein anderer luxemburgischer Autor wird so stark mit einem singulären Werk identifiziert wie Michel Rodange (1827 – 1876). Sowohl in der Forschung als auch im kollektiven Gedächtnis sticht sein Renert (1872) als zentrales Moment in der Entwicklung des Luxemburgischen als Literatursprache hervor – wohingegen seine anderen literarischen Arbeiten weitestgehend vergessen sind. Besondere Beachtung unter ihnen verdient eine wenig rezipierte Versdichtung, die bis heute nicht zu einem endgültigen Namen gefunden hat: D’Léierchen oder Dem Léiweckerche säi Lidd. Erste Betitelung bezieht sich auf das einzige vorliegende Manuskript Rodanges, die zweite auf die erste, 1926 veröffentlichte Fassung in der Luxemburger Lehrer-Zeitung. Die unterschiedlichen Titel lassen die turbulente Publikations- und Rezeptionsgeschichte des Werkes bereits erahnen.
Im Sommer 1928, lange nach Rodanges Tod, entdecken seine Töchter, Elise und Margarethe, die Urfassung des Textes auf dem Dachboden des Elternhauses, zusammen mit dem unvollendeten Theaterstück Dem Grow Sigfrid seng Goldkuommer. Beides übergeben sie dem Autor und Literaturwissenschaftler Nikolaus Welter, der den Sigfrid 1929 veröffentlicht. Das gut erhaltene Manuskriptheft der Léierchen, im Format 32 x 20 cm, umfasst 60 Seiten, von denen aber nur 28 beschriftet sind. Gut erkennbar sind die mit Bleistift gezogenen Seitenränder und Zeilen. In Kurrentschrift verfasst finden sich auf den ersten 28 Seiten 191 vierzeilige Strophen (764 Verse). Zahlreiche Durchstriche und Nachträge sowie einige eingeklebte Zettel mit Verbesserungen zeugen von einem unsteten, wankelmütigen Schreibprozess und erlauben wertvolle Einblicke in ein relativ frühes Stadium der Textgenese.
Bereits zwei Jahrzehnte vor der Entdeckung der Urfassung zirkulierte eine zweite Variante des Gedichtes, die 1903 in Fragmenten und 1926 in Gänze von Michel Molitor unter dem Titel Dem Lëwäckerche seï Lidd in der Luxemburger Lehrer-Zeitung veröffentlicht wurde. Diese Fassung ist um 16 Strophen kürzer, wurde jedoch gleichzeitig um vier komplett neue Abschnitte ergänzt. Sie stützt sich größtenteils auf eine in Antiqua verfasste Abschrift des Textes, die, laut Recherchen des Literaturarchivs, womöglich von den Kindern des Autors angefertigt wurde. Das vermeintliche Originalmanuskript Rodanges, auf das sie dabei zurückgegriffen haben, ist verschollen.
Doch auch das Fehlen einer von Rodange abgesegneten Endfassung kann die zurückhaltende Rezeption des Gedichtes nur bedingt erklären. Vielmehr befremdet der Text auch durch seinen Duktus und seine inhaltliche Orientierung. Wäre der Verfasser nicht namentlich bekannt, würde wohl niemand dem als scharfzüngigen Satiriker bekannten Rodange die Autorschaft zusprechen. Die gesellschaftskritischen Spitzen des Renert machen hier einem pastoral-bukolischen Gestus Platz, der das Idyll einer der Natur verbundenen Lebensweise in den Mittelpunkt rückt: Im beginnenden Frühling brechen Vater und Sohn zum Pflügen auf. Das Lied einer Lerche, vom Vater interpretiert, evoziert in belehrendem Tenor die Freuden des Bauerntums und die Schönheit der Natur. Die thematischen Schwerpunkte verleiten Interpreten immer wieder zu Vergleichen mit dem vergilischen Lehrgedicht Georgica, wobei nicht abschließend geklärt ist, inwieweit Rodange vom antiken Vorbild inspiriert war. Auch die Frage der Entstehungszeit des Textes hat in der Forschung zu regen Diskussionen geführt. Alain Atten, der in der 1990 erschienenen Neuausgabe des Gedichtes Rezeption und Genese des Werkes rekonstruiert hat, führt die Koericher Jahre von 1862 bis 1866 – also kurz vor Beginn der Arbeit am Renert – als wahrscheinlichste Zeitspanne an.
Wer das Originalmanuskript, das 1973 von der BnL erworben wurde, sowie drei weitere veröffentlichte Varianten des Léierchen-Stoffes einsehen will, kann dies online unter luxemburgensia.bnl.lu tun. Als erstes literarische Werk überhaupt wurde Rodanges Gedicht im Rahmen eines Pilotprojekts der BnL digitalisiert.
Erschienen in Die Warte, 21. Januar 2021, S. 9.
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