Quellcodekritik : Zur Philologie von Algorithmen Hannes Bajohr, Markus Krajewski

Nicht-luxemburgisch

Was hat programmieren mit Linguistik zu tun? Mehr als man denkt  –  so zumindest die These der von Hannes Bajohr und Markus Krajewski herausgegebenen Anthologie Quellcodekritik. Sie beruft sich auf die von Medienwissenschaftler Mark C. Marino instigierten pluridisziplinären Fachrichtung der Critical Code Studies (CCS), die Computercode als Kulturartefakt interpretiert, das in einem linguistischen und soziohistorischen Kontext untersucht werden kann. Folgerichtig ist der erste Artikel, den man in der vorliegenden Anthologie findet, das aus dem Englischen übersetzte Manifest von Marino zur Gründung der CSS.

Marino argumentiert, dass Code, insbesondere im Fall von mittleren bis höherkomplexen Sprachen wie Python, JavaScript oder C/C++, nicht nur zur Kommunikation mit Computern dient, sondern vornehmlich auch Menschen anspricht, etwa andere Softwareentwickler. Mit der fortschreitenden gesellschaftlichen Digitalisierung hat sich die Rezipientenzahl für Quelltexte tatsächlich rapide gesteigert – nicht nur Entwickler, sondern Richter, Anwälte, Designer und Künstler jeder Art bringen vermehrt Code in ihre Diskurse ein. In Fragen zu Datensicherheit, Fake News, Cyberwarfare oder gesellschaftlichen Umwälzungen durch KI stehen Algorithmen im Zentrum gegenwärtiger Diskurse. In diesem Sinne werden Programmiersprachen als Zeichensysteme interpretiert, die nicht wertneutral und rein funktional sind, sondern wie andere Texte auch, eine eigene Ästhetik und Rhetorik entwickeln und in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext und mit bestimmten ideologischen Voraussetzungen entstehen. Aufgabe der CCS ist es, diese zu rekonstruieren und kritisch lesbar zu machen.

Die weiteren Artikel der Anthologie bezeugen die weitreichenden thematischen Verästelungen der CSS, lassen jedoch auch einen stringenten roten Faden vermissen. Nicht selten werden die Auswirkungen der fortschreitenden Digitalisierung auf die Gesellschaft diskutiert, wobei die eigentlichen Algorithmen jedoch nur sporadisch miteinbezogen werden. Wenig überraschend stehen die rezenten Quantensprünge in der KI-Entwicklung im Mittelpunkt vieler Beiträge, insbesondere die großen Sprachmodelle (LLM), wie sie etwa bei Chat-GPT zum Einsatz kommen. Hervorzuheben ist in diesem Kontext ein Artikel zu den sogenannten Thanabots, mit Textdaten von Verstorbenen antrainierte Chatbots, die –  je nach Interpretation  –  den Trauerprozess beschleunigen oder verhindern. Einen gänzlich anderen, praxisorientierten Schwerpunkt wählt etwa Till. A. Heilmann, wenn er versucht – mit den Mitteln des distant reading – die 128.000 Codezeilen der ersten Photoshop-Version zu analysieren.

Eine Lektüre lohnt sich allemal, ob man die Gründungsthese der CSS (mit geisteswissenschaftlichen Methoden Code zu analysieren) überzeugend findet oder nicht. Der vorliegende Band bietet faszinierende Einblicke in die Geburtsstunde einer neuen Forschungsdisziplin und versäumt nicht, selbstkritisch mit den eigenen methodischen Ansprüchen umzugehen.

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