Rainer Maria Rilke – ein Leben in Worten
Zum 150. Geburtstag im Gedenken an den Dichter[…] in einem Gedicht, das mir gelingt, ist viel mehr Wirklichkeit als in jeder Beziehung oder Zuneigung, die ich fühle; wo ich schaffe bin ich wahr […]
Rainer Maria Rilke (1875–1926) zählt zu den größten Dichtern des 20. Jahrhunderts. Eine von Spannungen geprägte Kindheit führte ihn früh zur Sprache als existenziellem Ausdrucksraum. Rastloses Reisen nach Russland, Paris, Italien und in die Schweiz sowie Begegnungen mit prägenden Persönlichkeiten wie Auguste Rodin oder Lou Andreas-Salomé bestimmten seine Biografie. Das kurze Familienleben mit der Bildhauerin Clara Westhoff konnte seinem Freiheitsdrang nicht standhalten – Rilke ordnete sein Leben kompromisslos dem dichterischen Werk unter.
Sein Œuvre lässt sich in vier Entwicklungsphasen gliedern: das Frühwerk bis 1902 (Das Stunden-Buch, Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke), das mittlere Werk bis 1910 mit den Neuen Gedichten und dem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, das Spätwerk bis 1922 mit den Duineser Elegien und den Sonetten an Orpheus sowie die späten französischen und deutschen Texte. Hinzu kommen ein umfangreicher Briefwechsel, Übersetzungen französischer Lyrik – etwa von Paul Verlaine und Paul Valéry – sowie kunst- und kulturkritische Aufsätze.
Rilkes Poetik entwickelte sich vom subjektiv geprägten Frühwerk über einen sachlich-analytischen Zugang hin zum hermetisch-reflektierenden Spätwerk. Konstanten bilden die Auseinandersetzung mit Kunst und mit anthropologischen Fragen sowie die Grundthemen Liebe, Transzendenz und Tod. Leitend ist seine Idee des ‚Offenen‘, die Gegensätze aufhebt und im ‚Weltinnenraum‘ präzise Dingwahrnehmung mit spiritueller Intuition verbindet.
Wer Rilke liest, begegnet einem Dichter, der uns auffordert, das Leben nicht als Besitz, sondern als Aufgabe zu begreifen: tiefer zu sehen, langsamer zu leben, ehrlicher zu fühlen. Seine Werke sind bis heute eine Einladung, sich auf diese Suche einzulassen.
Die folgende Leseliste versammelt zentrale Werke sowie neue Biografien, die im Jubiläumsjahr weitere Perspektiven auf Rilkes Leben, Werk und Wirkung eröffnen.
Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke
Rainer Maria Rilke
Im Herbst 1899 verfasste Rilke die erste Fassung des Werks – nach eigener Aussage „in einer Herbstnacht, hingeschrieben bei zwei im Nachtwind wehenden Kerzen“. 1904 entstand eine überarbeitete Version, die in der Prager Monatsschrift Deutsche Arbeit erschien. Den großen Publikumserfolg brachte jedoch erst die dritte, 1906 veröffentlichte Fassung, die 1912 als erster Band der preiswerten Insel-Bücherei herauskam. Mit über 200 000 verkauften Exemplaren zu Rilkes Lebzeiten wurde der Cornet sein meistgelesenes Buch und begleitete viele Soldaten in den Ersten Weltkrieg.
Anregung erhielt Rilke durch familiengeschichtliche Dokumente seines ahnenforschenden Onkels Jaroslav; Rilke stellte dem Werk eine bearbeitete Fassung eines Aktenauszugs voran. Im Cornet schildert er Episoden aus dem Türkenkrieg von 1663/64: Der junge Christoph Rilke zieht mit Freiwilligen aus mehreren europäischen Ländern nach Ungarn, wird Cornet (Fahnenträger), erlebt Tod und Gewalt und verbringt in einem Schloss mit der Gräfin seine erste Liebesnacht. Am nächsten Morgen fällt er im Kampf.
Hinter der historischen Einkleidung verbirgt sich eine Initiationsgeschichte im Geist der Jahrhundertwende: Der Held überwindet Weltangst und Melancholie, lebt intensiv und erfährt den Tod als rauschhafte Entgrenzung: „die sechzehn runden Säbel, die auf ihn zuspringen, Strahl um Strahl, sind ein Fest. Eine lachende Wasserkunst.“
Der Erfolg des Buchs beruhte nicht zuletzt auf der besonderen Form: Aus locker verbundenen impressionistischen Prosaskizzen gefügt, in klangreicher, rhythmisierter Sprache und konsequent aus der Perspektive des Cornets erzählt, zieht der Text den Leser unmittelbar in die Erlebniswelt des Helden.
Der Cornet wurde vielfach übersetzt, illustriert, vertont, verfilmt, für die Opernbühne adaptiert – und nicht selten parodiert.
Das Stunden-Buch
Rainer Maria Rilke
Rilkes zwischen 1899 und 1903 entstandenes, 1905 veröffentlichtes Stunden-Buch gilt neben dem Cornet als bedeutendster Text seines Frühwerks und begründete seinen Ruf als ‚religiöser Dichter‘. Der Gedichtzyklus, Lou Andreas-Salomé gewidmet, greift das Genre mittelalterlicher ‚Stundenbücher‘ auf und präsentiert die ‚Gebete‘ eines fiktiven russischen Mönchs, der dichtet und Ikonen malt.
Geprägt wurde das Werk von Rilkes Italien- und Russlandreisen, einer Ehekrise und der Pariser Großstadterfahrung. Am prägendsten wirkte Russland, das er als Land geistiger Ordnungen und tiefer, leidensbereiter Frömmigkeit erlebte.
Das Stunden-Buch entwirft ein immanentes, pantheistisches Gottesbild: Gott als Grund allen Lebens, nicht seiend, sondern werdend – in Einheit mit dem Werden des Ichs. Stilistisch prägt den Text eine an den Jugendstil angelehnte Ornamentik aus fließenden Bildern, wiegendem Rhythmus und vernetzten Versen und Strophen.
Auguste Rodin
Rainer Maria Rilke
Für eine kunstwissenschaftliche Reihe verfasste Rilke eine zweiteilige Monografie über den damals bereits international bekannten Bildhauer Auguste Rodin. Das Werk aus den Jahren 1902 und 1907, versehen mit fast 100 Abbildungen und in poetischer Sprache geschrieben, bietet einen eindrucksvollen Einblick in Leben und Schaffen des französischen Bildhauers und Zeichners (1840–1917). Rodin, bekannt für Werke wie Das Höllentor und Der Denker, gilt als einer der Begründer der modernen Plastik und Skulptur; sein Werk wurde wesentlich von der griechischen Antike, Donatello und vor allem Michelangelo beeinflusst.
Die Monografie ist eine leidenschaftliche Würdigung von Rodins künstlerischem Genie. Rilke erzählt dessen Lebensgeschichte mit epischer Kraft und einer Bewunderung, die fast religiöse Züge annimmt. Er beschreibt Rodins intensive Hingabe an Dante und Baudelaire, seine Lehrjahre in verschiedenen Ateliers sowie die Hürden, die der Künstler auf dem Weg zur Anerkennung überwinden musste.
Besonders beeindruckt war Rilke von Rodins diszipliniertem Arbeitsethos, der Verbindung von Inspiration und Handwerk sowie der Wirkungskraft der modellierten Oberflächen in den zahlreichen von Rodin geschaffenen ‚Dingen‘. Sehr beachtlich sind auch Rilkes Schilderungen der Arbeitssitzungen, bei denen er Rodins Umgang mit seinen Modellen aus nächster Nähe beobachtete. Die kraftvollen, von intensivem Pathos erfüllten Figuren hinterließen bei dem Dichter einen tiefen Eindruck.
Rilke und Rodin verband eine mystische, sinnlich geprägte Hingabe zur Kunst – eine Begegnung, die Rilkes eigene Auffassung von Kunst und Künstlerberuf grundlegend veränderte und sein dichterisches Werk nachhaltig prägte.
Zwischen 1905 und 1907 hielt Rilke in neun europäischen Städten, darunter Berlin, Prag, Paris und Wien, den Vortrag Vom Werke Auguste Rodins.
Neue Gedichte / Der Neuen Gedichte anderer Teil
Rainer Maria Rilke
Rilkes Neue Gedichte erschienen 1907 und 1908 in zwei Bänden: Der erste Band, Neue Gedichte, Elisabeth und Karl von der Heydt gewidmet, entstand zwischen 1903 und Juli 1907 (das früheste Gedicht, Der Panther, vermutlich bereits im November 1902). Der zweite Band, Der Neuen Gedichte anderer Teil, geschrieben zwischen dem 31. Juli 1907 und dem 2. August 1908, ist Auguste Rodin zugeeignet. Die meisten der insgesamt 190 Texte entstanden in Paris, Rilkes Hauptwohnsitz ab August 1902.
Die Sammlung markiert einen Wendepunkt in Rilkes Werk: den Übergang von subjektiver Innerlichkeit zu einer objektivierenden, auf das Ding gerichteten poetischen Sprache. Die sogenannten Dinggedichte behandeln Kunstwerke, Tiere, Pflanzen, Alltagsgegenstände, Landschaften sowie biblische und kulturhistorische Motive, deren Darstellung durch Wahrnehmung und ästhetische Formung zu einem ‚Kunstding‘ verdichtet wird.
Zentral ist dabei nicht das Objekt selbst, sondern dessen Erscheinung im Bewusstsein. Die poetische Konzeption beruht auf der Korrespondenz von äußerer Welt und innerer Anschauung, wodurch das Gedicht zu einer transzendierenden Gestaltung wird. Rodins bildhauerisches Denken und später Cézannes malerisches Sehen prägten diesen Ansatz entscheidend.
Die beiden Bände gelten heute als Höhepunkt der deutschsprachigen Lyrik des 20. Jahrhunderts.
Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
Rainer Maria Rilke
Rainer Maria Rilkes einziger Roman, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910), entstand über mehrere Jahre hinweg: Er wurde 1904 in Rom begonnen und 1910 in Paris vollendet. Die Erzählung ist als Tagebuchroman angelegt und schildert die Erfahrungen des 28-jährigen Dänen Malte Laurids Brigge, der aus einem gehobenen ländlichen Milieu stammt und nach Paris kommt, um dort als Dichter zu leben. In der Großstadt sieht er sich jedoch mit einer tiefgreifenden existenziellen Krise konfrontiert, die im Spannungsfeld moderner Urbanität verortet ist.
Der Roman besteht aus 71 fragmentarischen Einträgen, die die Wahrnehmungen und Reflexionen des Protagonisten wiedergeben. Eindrücke von Krankheit, Tod, Armut und Einsamkeit in der Metropole lösen retrospektive Kindheitserinnerungen aus und führen zu Überlegungen über verschiedene Existenzformen, die sowohl realen als auch kunsthistorischen Motiven entstammen.
Thematisch konzentriert sich der Roman auf zentrale Aspekte der modernen Existenz, die Malte vielschichtig reflektiert und in ein kohärentes Selbstverständnis zu integrieren versucht. Im Mittelpunkt steht die Darstellung einer gestörten Beziehung zwischen Subjekt und Welt, da das erlebende Ich mit einer Umwelt konfrontiert wird, die seinen inneren Lebensvorstellungen nicht entspricht.
Stilistisch variieren Länge und Form der Aufzeichnungen stark: Tagebuchähnliche Notate, prosalyrische Passagen, Briefentwürfe, zu kleinen Erzählungen ausgearbeitete Erinnerungen, erinnerte Geschichten anderer Figuren, Episoden, Reflexionen sowie Gleichnisse und Parabeln prägen das Werk. Charakteristisch ist Rilkes hochdifferenzierte, poetisch verdichtete Sprache.
Briefe an einen jungen Dichter. Mit den Briefen von Franz Xaver Kappus
Rainer Maria Rilke, herausgegeben von Erich Unglaub
Briefe an einen jungen Dichter ist eine 1929 im Insel Verlag erschienene Sammlung von zehn Briefen Rainer Maria Rilkes an den Offiziersanwärter Franz Xaver Kappus. Die Korrespondenz entstand zwischen 1903 und 1908 und wurde von Kappus selbst herausgegeben.
Anlass des Briefwechsels war Kappus’ Bitte um ein literarisches Urteil über eigene Gedichte. Rilke, der dem jungen Mann persönlich nicht bekannt war, verzichtete bewusst auf eine konkrete Bewertung und antwortete stattdessen mit grundsätzlichen Überlegungen zur künstlerischen und existenziellen Selbstfindung. Im Zentrum seiner Briefe steht weniger das literarische Handwerk als vielmehr eine Lebensethik, welche Einsamkeit, Selbstprüfung, Unabhängigkeit und eine tiefere Form der Liebe in den Mittelpunkt stellt. Der Ton der Schreiben ist von Einfühlsamkeit, Ernst und Bescheidenheit geprägt.
In ihrer sprachlichen Dichte, seelischen Tiefe und zeitlosen Weisheit zählen die Briefe bis heute zu den meistzitierten Texten Rilkes. Sie gelten als wichtige Inspirationsquelle für junge Menschen, die sich – ähnlich wie einst Kappus – mit Fragen nach Identität, Berufung und künstlerischem Ausdruck auseinandersetzen.
Die 2019 im Wallstein Verlag erschienene kommentierte Ausgabe von Erich Unglaub enthält erstmals den vollständigen Briefwechsel in chronologischer Abfolge einschließlich der Schreiben von Franz Xaver Kappus. Ein ausführliches Nachwort sowie umfangreiche Endnoten bieten zudem aufschlussreiche Einblicke in die Entstehung und Rezeption dieser außergewöhnlichen Korrespondenz.
Duineser Elegien
Rainer Maria Rilke, mit einem Essay von Peter Szondi
Rainer Maria Rilke begann den ersten Teil seiner Duineser Elegien im Jahr 1912 während eines Aufenthalts auf Schloss Duino, dem östlich von Triest gelegenen Sitz seiner langjährigen Freundin Fürstin Marie von Thurn und Taxis. Zwar setzte er die Arbeit an dem Zyklus in den Jahren 1913 und 1915 fort, doch erst ein Jahrzehnt später, nach Überwindung einer tiefgreifenden Schaffenskrise, konnte er die Elegien 1922 während eines schöpferisch intensiven Aufenthalts in Muzot vollenden.
In mehreren begeisterten Briefen berichtet Rilke von einem regelrechten Schreibrausch, der ihn in nur dreieinhalb Wochen nicht nur die restlichen Elegien, sondern auch die 55 Sonette an Orpheus sowie den Prosatext Der Brief des jungen Arbeiters verfassen ließ.
Die zehn Langgedichte – ihr Umfang reicht von 44 Versen (Sechste Elegie) bis zu 113 Versen (Zehnte Elegie) – gelten sowohl für Rilke selbst als auch für große Teile der Forschung als sein Hauptwerk. Grob strukturiert, lassen sich die ersten beiden Elegien als Reflexionen über die conditio humana, die grundsätzliche menschliche Daseinsform, lesen: Der Mensch erscheint als Mängelwesen, das von Vergänglichkeit geprägt ist und eines eindeutigen Schicksals entbehrt.
Dieser existenzielle Zustand wird nicht isoliert betrachtet, sondern durch Gegen- und Grenzfiguren gespiegelt. Rilke stellt dem Menschen einerseits ‚Gegenbilder‘ wie Tiere und Engel gegenüber, andererseits verweist er auf ‚Grenzbilder‘ menschlicher Existenz: das Kind, den Helden, den jung Verstorbenen oder die großen Liebenden.
In einem Wechselspiel von Klage und Lob entfalten die Duineser Elegien ein spannungsvolles Verhältnis zur Welt, das zugleich poetische Impulse zur Bejahung des Lebens vermittelt.
Duineser Elegien und zugehörige Gedichte 1912–1922
Rainer Maria Rilke, herausgegeben von Christoph König
Mit den von Christoph König herausgegebenen Werken Rainer Maria Rilkes erscheint erstmals eine auf 26 Bände angelegte, vollständig historisch-kritische Ausgabe. Die modular konzipierte Edition präsentiert jeden Band als eigenständige Einheit. Grundlage ist ein philologisch verlässlicher Text, der auf umfangreichen Materialien aus Rilkes bislang unbekanntem privatem Nachlass basiert, den das Deutsche Literaturarchiv 2022 erworben hat. Die Edition enthält neben den endgültigen Texten auch Entwürfe und Vorstufen, dokumentiert die Entstehungsgeschichte und bietet umfassende Sacherläuterungen. Ein konzises Nachwort ordnet jedes Werk historisch ein, skizziert seine Rezeptionsgeschichte und gibt Anregungen zur Lektüre.
Die Sonette an Orpheus
Rainer Maria Rilke, mit einem Nachwort von Ulrich Fülleborn
Der Doppelzyklus der Sonette an Orpheus entsteht für Rainer Maria Rilke überraschend im Februar 1922 – parallel zur Vollendung der Duineser Elegien. Die ersten 26 Sonette schreibt er in nur vier Tagen (2.–5. Februar), weitere 29 folgen nach rund zwei Wochen Arbeit an den Elegien, vom 15. bis 23. Februar. Gewidmet ist das Werk der früh verstorbenen Tänzerin Wera Ouckama Knoop, der die Gedichte ein „Grab-Mal“ setzen sollen – ein poetisches Requiem, das Leben und Tod im Gleichgewicht von Klage und Rühmung bejaht.
Den Schaffensimpuls gaben ein Brief von Weras Mutter und eine Zeichnung von Cima da Conegliano, die Rilkes Geliebte, die Malerin Baladine Klossowska, in seinem Arbeitszimmer zurückließ: Orpheus, unter einem Baum, auf der Lyra spielend, umgeben von lauschenden Tieren.
Orpheus erscheint in den Sonetten als Gott der Dichtung, als Grenzgänger zwischen Leben und Tod und als mythisches Gegenbild des Dichters. Sein Gesang zähmt Natur und Tiere; sein ,doppeltes Todeswissen‘ verleiht ihm überzeitliche Geltung.
Der Zyklus bündelt zentrale Elemente von Rilkes Lyrik: die Ding-Lyrik der Neuen Gedichte, die religiöse Sprache des Stunden-Buchs und den feierlichen Ton der Elegien, entfaltet dabei aber eine eigene formale und semantische Offenheit.
Die Sonette verzichten auf ein eindeutiges Gemeintes zugunsten einer poetisch-symbolischen Welt, in der alles aufeinander bezogen ist. Wiederkehrende Motive thematisieren die Durchdringung von Leben und Tod, Sichtbarem und Unsichtbarem, Materiellem und Geistigem – und formulieren zugleich eine kritische Reaktion auf die entgötterte Moderne und deren technologische Selbstentfremdung.
Briefwechsel
Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé, herausgegeben von Ernst Pfeiffer
Im Mai 1897 kam es in München, wo Rainer Maria Rilke studierte und Anschluss an die literarische Szene suchte, zu einer eher zufälligen Begegnung mit Lou Andreas-Salomé. Die 36-jährige Petersburgerin war bereits als etablierte Autorin bekannt, vor allem durch ihre Erzählungen, Romane und eine Monografie über Henrik Ibsen. Zudem galt sie als selbstbewusste Intellektuelle, die einst Friedrich Nietzsches Heiratsantrag abgelehnt hatte.
Aus dieser Begegnung entwickelte sich eine fast vierjährige Liebesbeziehung, die mit Andreas-Salomés Abschiedsbrief vom 26. Februar 1901 endete. Nach einer zweieinhalbjährigen, von ihr initiierten Kontaktsperre nahm Rilke die Korrespondenz wieder auf. Diese erneute Annäherung mündete in eine 23-jährige Freundschaft, die vor allem durch einen umfangreichen Briefwechsel bei zugleich wenigen persönlichen Treffen geprägt war.
Kein anderer Austausch legt Rilkes innere Konflikte so schonungslos offen. Besonders in den Krisenjahren 1903/04 und 1911–1914 wandte er sich mit detaillierten Berichten zu seiner schwierigen literarischen Arbeit, Entwürfen, persönlichen Bekenntnissen, Hilferufen und Momenten der Euphorie an Lou. Er zog sie bisweilen als Deuterin und Richterin über sein Leben heran, während ihre eigenen Lebensumstände weitgehend im Hintergrund blieben. Rilke schrieb als Autor, Lou antwortete als seine erste Leserin.
Ein Schlüsselmoment war sein Brief vom Juli 1903: Auf Lous Ermutigung hin schilderte Rilke auf zwanzig Seiten seine problematische Ehe mit Clara Westhoff, das bedrückende Leben in Paris und Szenen tiefer Trostlosigkeit. Lou erkannte darin eine „Klarheit der Einsicht“ frei von „Selbsttäuschungen“ und bestätigte ihn mit den Worten: „Der Dichter in Dir dichtet aus des Menschen Ängsten.“ Passagen dieses Briefes fanden fast wortwörtlich Eingang in die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und zählen zu den frühesten Quellen des Romans.
Rilke. Dichter der Angst. Eine Biographie
Manfred Koch
Manfred Koch untersucht Rainer Maria Rilkes Leben und Werk unter dem Leitmotiv der Angst. Die Biografie zeigt, wie Rilkes Streben, sein Leben als Kunstwerk zu gestalten, seine Wahrnehmung schärfte und ihn zugleich an die Abgründe von Zeit und Selbst führte. Rilke erscheint dabei als „Angst-Dichter“, dessen Werk aus existenzieller Bedrängnis hervorgeht.
Koch verbindet Rilkes prägende Lebensstationen – Prag, Russland, Worpswede, Paris, München, Duino, Spanien, Schweiz – mit exemplarischen Werkinterpretationen. Die Biografie folgt keiner streng chronologischen Ordnung, sondern thematischen Schwerpunkten: Kapitelüberschriften wie Großstadttod, Kindheitsschrecken oder Rainerwerdung markieren zentrale Erfahrungsfelder, die sich literarisch besonders in Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge widerspiegeln. Dieses „Angst-Buch“ steht im Zentrum der Biografie; Koch widmet den Pariser Jahren 1902–1910, in denen es entstand, eine besonders detaillierte Analyse. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit den Duineser Elegien und den Sonetten an Orpheus.
Koch betont die prägende Rolle von Frauen wie Lou Andreas-Salomé und Marie von Thurn und Taxis, die Rilkes künstlerische Entwicklung entscheidend beeinflussten, und reflektiert sein ambivalentes, zugleich von Nähe und Distanz geprägtes Verhältnis zu Frauen.
Die Biografie verschränkt Lebenserzählung und Textexegese, wechselt zwischen „Werk im Leben“ und „Leben im Werk“ und bietet so eine dichte, konzise Darstellung.
Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben. Eine Biographie
Sandra Richter
Sandra Richter, Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, legt mit ihrer Rilke-Biografie ein Werk vor, das auf zahlreichen bislang unerschlossenen Quellen basiert. Grundlage sind bedeutende Teile aus Rilkes Nachlass, vor allem 15 Notizbücher, die Richter ausgewertet hat. Daraus ergibt sich ein verändertes Bild des Dichters, das auch künftig neue Sichtweisen eröffnen dürfte. Aspekte wie Rilkes slawische Herkunft oder seine enge Verbindung zu Prag erschließen dabei bislang wenig beachtete Kontexte.
Richters Darstellung ist philologisch präzise und zugleich gut lesbar. Sie verbindet eine chronologische Lebensbeschreibung mit der Herausarbeitung künstlerischer und persönlicher Entwicklungsschritte. Kapitelüberschriften wie Der Vater und sein verlorener Sohn, Slawophiler Debütant im deutsch-böhmischen Prag, René wird Rainer, Sehen lernen mit Clara Westhoff, Babylon Paris, Schreiben als Selbsttherapie, Das Erfolgsbuch oder Gegen den „deutschen Typus“ des weltabgewandten Dichters zeigen, wie Leben und Werk ineinandergreifen. So korrigiert Richter das gängige Bild des weltabgeschiedenen Dichters und präsentiert Rilke als aktiven, gesellschaftlich vernetzten Menschen.
Richter gelingt es mit ihrer Biografie, Rilke in ein neues Licht zu rücken und zugleich das Eigenwillige wie auch das Fragwürdige seines Werks kritisch zu beleuchten. Zahlreiche Zitate, Abbildungen und Dokumente runden das Bild ab.
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