Kafka lebt weiter: 100 Jahre seines Erbes

Leseliste

Christine Bentz

Franz Kafka (1883–1924) zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern des frühen 20. Jahrhunderts. Sein Werk besticht durch Themen und Motive, die nach ihm als kafkaesk bezeichnet werden: das Undurchdringliche, das Labyrinthische, das Übermächtige und das Ungerechte. Zu der Jahrhundertwende, einer Zeit des politischen, gesellschaftlichen und technologischen Wandels, geprägt von Industrialisierung, wissenschaftlichem Fortschritt, Säkularisierung und Urbanisierung, manifestierte sich eine Ohnmachtserfahrung des Einzelnen. Zusammen mit dem Lebensgefühl veränderte sich auch die Literatur. Als deutschsprachiger Autor jüdischer Herkunft aus Prag schuf Kafka ein Universum von beklemmender Atmosphäre und psychologischer Tiefe, das von Isolation, Machtlosigkeit und der Suche nach Identität durchdrungen ist.

Kafkas Werke wurden größtenteils erst nach seinem Tod und entgegen seiner letztwilligen Verfügung von Max Brod (1884–1968) veröffentlicht, einem engen Freund und Vertrauten, den Kafka als Nachlassverwalter bestimmt hatte. Auch 100 Jahre nach seinem Tod haben die Texte Kafkas nichts von ihrer Faszination verloren. Neben seinen drei Romanfragmenten Der Prozess, Das Schloss und Der Verschollene bilden sein Hauptwerk zahlreiche Erzählungen. Diese entfalten eine enorme Wirkung auf die literarische Moderne und inspirieren weiterhin Generationen von Schriftstellern und Künstlern weltweit.

Diese Leseliste lädt Sie dazu ein, durch ausgewählte Werke in die beeindruckende Welt von Franz Kafka einzutauchen und seine visionäre literarische Idee und Erzählkunst zu entdecken. Weitere fünf Werke bieten Einblicke in die vielseitige Beschäftigung mit dem Autor: Es sind Bücher über Kafka, Bücher mit Kafka und solche, die durch ihn inspiriert wurden.

Die Verwandlung (Franz Kafka)

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Der Handelsreisende Gregor Samsa wacht eines Morgens auf und entdeckt, dass er sich in ein käferartiges, ungeheures Ungeziefer verwandelt hat. Gefangen in seinem neuen Körper, versucht er weiterhin seinen Pflichten als Ernährer der Familie nachzukommen, wird jedoch von der Familie in seinem Zimmer gefangen gehalten. Anfangs kümmert sich die Schwester Grete um seine Bedürfnisse, doch mit der Zeit und zunehmenden finanziellen Sorgen wendet sich auch sie von ihm ab. Die Familie gerät in eine Spirale aus Verzweiflung und Entfremdung, die Gregors Situation verschärft.

Die Verwandlung ist eine im Jahr 1912 entstandene Erzählung von Franz Kafka. Sie ist mit einem Umfang von rund 100 Druckseiten die längste für abgeschlossen gehaltene und zu seinen Lebzeiten (1915) veröffentlichte Erzählung. Der zu einem Käfer gewordene Gregor Samsa ist Inbegriff der geheimnisvollen, fantastischen Welt Franz Kafkas und gehört zu den bekanntesten Plots der Weltliteratur. Die Klarheit, die Nüchternheit und die Eindringlichkeit der verwendeten Sprache verstärken die Ungeheuerlichkeit des Erzählten und schaffen eine beklemmende, surreale, abstruse Atmosphäre. Der Inhalt ist derart ungewohnt und ambivalent, dass die Lektüre ein bleibendes Gefühl der Verwirrung und Faszination hinterlässt, das lange nach dem Lesen anhält.

Der Prozess (Franz Kafka)

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Der Fragment gebliebene und 1925 posthum veröffentlichte Roman erzählt die Geschichte des Bankangestellten Josef K., der ohne ersichtlichen Grund verhaftet wird und einem undurchsichtigen Gerichtsprozess unterzogen wird. Er versucht verzweifelt, den Sinn sowie die Rechtmäßigkeit des Verfahrens zu verstehen und sich gegen das System zu verteidigen, findet sich aber bald in einem Labyrinth aus Bürokratie, Machtmissbrauch und Unsicherheit gefangen. Während des Prozesses trifft er auf eine Vielzahl bizarrer Charaktere, darunter Anwälte, Richter und Wächter, die seine Lage nur noch verwirrender machen. Am Ende wird Josef K. ohne wirkliche Auflösung oder Erklärung hingerichtet.

Der Prozess gehört zu den Werken Kafkas, bei denen ein unmittelbarer biografischer Anlass erkennbar ist: die Auflösung seiner Verlobung mit Felice Bauer. Kafka erlebte diese Trennung als besonders traumatisch, da sie in Anwesenheit zweier Zeuginnen stattfand, die ihm im Hotel Askanischer Hof in Berlin wie Geschworene gegenübersaßen. Es ist naheliegend, dass sich für den Juristen Kafka hier die Metaphorik des Gerichts aufdrängte.

Der Roman, der als Kafkas Hauptwerk gilt, wirft Fragen nach Macht, Autorität, Schuld und Identität auf. Er thematisiert Erfahrungen, die sämtliche moderne Massenmediengesellschaften prägen: Selbstentfremdung, Desorientierung und Anonymität. Dabei schildert Kafka das Alltägliche mit fotografischer Genauigkeit, lässt jedoch den Sinn des Ganzen völlig im Dunkeln. Die Vermischung von realistischen und fantastischen Motiven sowie die kafkaesken Elemente machen die Lektüre zu einem faszinierenden und zugleich herausfordernden Erlebnis.

Brief an den Vater. Mit einem unbekannten Bericht über Kafkas Vater als Lehrherr und andere Materialien (Franz Kafka)

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Liebster Vater, Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wußte Dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als daß ich sie im Reden halbwegs zusammenhalten könnte. Und wenn ich hier versuche, Dir schriftlich zu antworten, so wird es doch nur sehr unvollständig sein, weil auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen mich Dir gegenüber behindern und weil die Größe des Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Verstand weit hinausgeht.

Der Brief an den Vater, verfasst im Jahr 1919, ist ein nie abgeschicktes Schreiben von Franz Kafka an seinen Vater. Dieser umfangreiche Brief erstreckt sich über 103 handgeschriebene Seiten (45 Seiten in maschineller Form), in denen Kafka versucht, seinen Vaterkonflikt schreibend zu bewältigen. Das autoritäre und höchst widersprüchliche Verhalten des Vaters hinterlässt bei ihm einen tiefgreifenden psychischen Eindruck. Er beschreibt die Wechselwirkung zwischen seiner eigenen Schwäche, die er gemäß seinem Selbstbildnis mit Begriffen wie „Entscheidungsschwäche“, „Lebensunfähigkeit“ und „Beamtenhaftigkeit“ umreißt, und der Übermacht des Vaters. Kafka strebt danach, die Frage nach seiner persönlichen Schuld zu überwinden und den Zusammenprall derart unterschiedlicher Charaktere eher als ein schicksalhaftes Verhängnis zu begreifen.

Die im Wagenbach Verlag erschienene Ausgabe von Franz Kafkas Brief an den Vater enthält außerdem einen Bericht von František Xaver Bašík (1878–1963) über Hermann Kafka. Bašík, ein ehemaliger Lehrling, der zwischen 1892 und 1895 im Galanteriewarenladen der Kafkas gearbeitet hat, liefert mit seinen Erinnerungen ein lebendiges Bild vom Alltag der Familie Kafka. Seine Schilderungen vermitteln überraschend andere Eindrücke und ergänzen somit die Perspektive, die Kafka in seinem Brief darlegt.

Unter dem Vorbehalt, inwieweit Kafkas Schilderung der väterlichen Tyrannei und seiner eigenen psychischen Entwicklung wörtlich zu nehmen ist und in welchem Maß sie literarisch überformt oder gar fiktional ist, stellt Kafkas Brief seit seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1952 einen wichtigen Teil seines literarischen Erbes dar. Die diskursive, quasi-autobiografische Selbstreflexion gilt als Schlüsseltext sowohl für psychoanalytische und biografische Studien über Kafka als auch zur Interpretation seines Werkes.

Das Schloss (Franz Kafka)

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Kafkas 1922 entstandene Romanfragment wurde 1926 von Max Brod posthum veröffentlicht. Es zählt zweifellos zu den rätselhaftesten Werken der Weltliteratur.

Der Protagonist K. trifft in einem winterlichen Dorf ein, das zur Herrschaft eines Schlosses gehört. Als er nach seiner Aufenthaltserlaubnis gefragt wird, gibt sich K. als Landvermesser aus. Wie aus einem Gespräch mit dem Dorfvorsteher im weiteren Verlauf hervorgeht, wurde die Bestellung eines Landvermessers zwar erwogen, es bleibt aber ungeklärt, ob K. tatsächlich berufen wurde. Daher darf er zwar bleiben, jedoch nur zeitweise als Schuldiener arbeiten.

Das Schloss, samt seiner Verwaltung, scheint durch einen gewaltigen, undurchschaubaren bürokratischen Apparat jeden Einzelnen der Einwohner zu kontrollieren und dabei unnahbar und unerreichbar zu bleiben. Die Dorfbewohner sind einer nicht greifbaren bedrohlichen Hierarchie ausgesetzt, an deren Spitze sich die Beamten des Schlosses befinden. Trotz  möglicher Konsequenzen bei Überschreitung der Vorschriften erhebt das Schloss niemals erkennbare Sanktionen. Die Dorfbewohner leben in einer angstgeladenen, beklemmenden Atmosphäre und bringen den Beamten eine scheinbar völlig unangemessene Ehrfurcht entgegen, die K. unverständlich bleibt.

Der Leser taucht in eine Welt der Unsicherheit, der Isolation und des anhaltenden Verlangens nach Zugehörigkeit ein, während K. sich unermüdlich bemüht, die Geheimnisse des unerreichbaren Schlosses zu ergründen. Kafkas einzigartige Fähigkeit, die Absurdität der menschlichen Existenz zu vermitteln, gepaart mit seinem scharfen Einblick in die Komplexität von Macht und Autorität, verspricht eine fesselnde und nachdenklich stimmende Lektüre.

Die Zürauer Aphorismen (Franz Kafka)

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Nach Ausbruch seiner Tuberkulose verbrachte Kafka einige Monate zur Erholung im Haus seiner Schwester Ottla im böhmischen Zürau (tschechisch: Siřem). Dort entstanden zwischen September 1917 und April 1918 die 109 Aphorismen, die Kafka in zwei Schulhefte im Oktavformat notierte und später auf mehr als hundert nummerierte Zettel in Reinschrift übertrug. Max Brod veröffentlichte sie erstmals 1931 unter dem Herausgebertitel Betrachtungen über Sünde, Hoffnung, Leid und den wahren Weg.

Die Aphorismen behandeln weltanschauliche und metaphysische Themen wie das Verhältnis von Wahrheit und Lüge, Gut und Böse, geistiger und sinnlicher Welt, Entfremdung und Erlösung sowie Tod und Paradies. Die enthaltenen philosophischen Überlegungen sind etwa von den Ideenwelten Platons, Schopenhauers und Kierkegaards angeregt.

Die aphoristische Schreibweise entspricht Kafkas Priorisierung des bildlichen Ausdrucks über den begrifflichen, sie verstärkt sogar die Tendenz zu Abstraktion und Reflexion, die in seinem späten Werk deutlich wird. Die Reihe von Aphorismen, einzelnen Bildern und Parabeln lässt den Leser an Kafkas pessimistischer Weltanschauung teilhaben und regt zur Reflexion über persönliche und gesellschaftliche Themen an. Sie fordern den Leser heraus, den vielschichtigen, impliziten Verbindungen zwischen den Einzeltexten nachzuspüren und sie explizit zu machen.

(36) Früher begriff ich nicht, warum ich auf meine Frage keine Antwort bekam, heute begreife ich nicht, wie ich glauben konnte, fragen zu können. Aber ich glaubte ja gar nicht, ich fragte nur.
(62)  Die Tatsache, daß es nichts anderes gibt als eine geistige Welt, nimmt uns die Hoffnung und gibt uns die Gewißheit.
(69)  Theoretisch gibt es eine vollkommene Glücksmöglichkeit: An das Unzerstörbare in sich glauben und nicht zu ihm streben.

Die Zeichnungen (Franz Kafka)

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Im Jahr 2019, also 95 Jahre nach seinem Tod, tauchten über 100 Zeichnungen von Franz Kafka auf, die jahrzehntelang in einem Zürcher Bankschließfach unter Verschluss gehalten wurden. Diese Entdeckung führte schließlich dazu, dass im Jahr 2021 erstmals eine Gesamtedition aller erhalten gebliebenen Zeichnungen veröffentlicht wurde.

Besonders in seinen frühen Jahren, zwischen 1901 und 1907, widmete sich Kafka intensiv der Kunst des Zeichnens. Während seiner Studienzeit an der Prager Universität zeigte er ein starkes Interesse an der bildenden Kunst. Die Jurastudenten Brod und Kafka besuchten Vorlesungen in Kunst- und Literaturwissenschaft, übten sich im Zeichnen und pflegten Kontakte zu Künstlern sowie angehenden Kunsthistorikern.

Während ihrer Studienjahre spielte der Prager Maler und Grafiker Emil Orlik (1870­–1932) für sowohl Brod als auch Kafka eine bedeutende Rolle. Orlik repräsentierte den zeitgenössischen Japonismus und inspirierte Kafka zur Reflexion über die Linie in der Zeichnung. Besonders faszinierte ihn Orliks einzigartiger Pinselstrich, mit dem er sowohl Landschaften als auch Menschen einfing. Die schlichten ästhetischen Formen und minimalistischen Gemälde übten eine enorme Anziehungskraft auf den jungen Kafka aus, der darin eine immense schöpferische Energie sah.

Die bisher unbekannten Vignetten, reduzierten Kritzeleien und Träumereien von Kafka präsentieren fragile und zugleich rätselhaft-faszinierende Gestalten. Durch ihre dynamischen Strichmännchen kippen seine Zeichnungen oft vom Realistischen ins Fantastische sowie Groteske und gelegentlich sogar ins Unheimliche und Karnevaleske. Sie fungieren als kleine Erzählungen aus einer absurden Welt, die beim Betrachter ähnliche Reaktionen hervorrufen wie Kafkas literarische Werke: Schmunzeln, Schaudern und Faszination.

Kafka Collection: kleine Erzählungen (Franz Kafka)

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Kafkas Kurzprosa und Erzählungen sind Schlüsseltexte der Moderne. Sein Erfindungsreichtum, der von absurden bürokratischen Situationen bis hin zu eigenartig heiteren Tiergeschichten mit tragisch-komischen Protagonisten reicht, ist einzigartig und unerreicht.

Zu Lebzeiten veröffentlichte Kafka drei Sammelbände: Betrachtung (1912) mit 18 kleinen Prosaskizzen, Ein Landarzt (1918) mit 14 Erzählungen und Ein Hungerkünstler (1924) mit vier Prosatexten.

Dieses 79 Minuten lange Hörbuch bietet einen Querschnitt aus den von Kafka selbst sowie aus seinem Nachlass veröffentlichten Erzählungen. Die von Hans-Gerd Koch vorgenommene Auswahl umfasst, neben bekannten kleinen Erzählungen wie Vor dem Gesetz, Auf der Galerie, Der Kübelreiter, Der neue Advokat, auch weniger bekannte kurze Prosa wie beispielsweise Ein altes Blatt, Ein Kommentar oder Die Brücke.

Für diese Collection wurden bedeutende Stimmen ans Mikrofon gebeten: Uwe Friedrichsen, Hanns Zischler, Frank Arnold, Anna Thalbach, Monica Bleibtreu, Mathieu Carrière, Otto Sander, Max von Thun und viele andere. Ergänzt wird das Hörbuch durch sechs eigens komponierte Stücke von Max Brod.

Kafkas Familie. Ein Fotoalbum (Hrsg.: Hans-Gerd Koch)

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Die umfangreiche Sammlung von über einhundert Fotografien der Familie Kafka, darunter viele bisher unveröffentlichte, zeigt den Schriftsteller inmitten seiner Verwandtschaft. Diese Bilder, von den Nachfahren seiner Schwester aufbewahrt, bieten nicht nur Einblicke in das familiäre Leben, sondern zeugen auch vom sozialen Aufstieg einer jüdischen Familie von bescheidenen ländlichen Verhältnissen hin zum Prager Bürgertum.

Hans-Gerd Koch, ein Experte für Kafka, stellt in diesem Zusammenhang Auszüge aus Kafkas Texten sowie Briefen und Tagebucheinträgen den Familienfotografien gegenüber. Dadurch wird deutlich, wie eng Kafkas literarisches Schaffen mit seiner Familiengeschichte verwoben ist.

Die Aufnahmen offenbaren eine tiefe Verbundenheit und den Zusammenhalt innerhalb der Familie um Franz Kafka. Dieser Eindruck verstärkt die Annahme, dass Kafka nicht die isolierte Figur war, als die er sich oft präsentierte, sondern vielmehr fest in dieser Familie verwurzelt war, die ihre Zusammengehörigkeit auch durch regen Austausch von Fotografien zum Ausdruck brachte.

Die Herrlichkeit des Lebens: Roman (Michael Kumpfmüller)

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Michael Kumpfmüller eröffnet seinen biografischen Roman über das letzte Lebensjahr von Franz Kafka an der Seite von Dora Diamant mit einem Zitat aus Kafkas Tagebuch von 1921:

Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft.
— Quelle: Hans-Gerd Koch, Michael Müller, Malcolm Pasley (Hrsg.): Franz Kafka. Tagebücher. Frankfurt am Main: S. Fischer 1990, S. 866.

Im Sommer 1923 lernt der an Tuberkulose erkrankte Kafka die 25-jährige Dora Diamant kennen und entscheidet sich innerhalb weniger Wochen dafür, mit ihr im Berlin der Weimarer Republik zusammenzuleben. Bis zu seinem Tod werden sich Kafka und Dora Diamant, mit nur wenigen Ausnahmen, nicht mehr trennen.

Der Autor verschmilzt in seinem Roman sorgfältig recherchierte Lebensgeschichte mit einfühlsamer Fiktion. Er webt Kafkas Tagebücher, Briefe und letzte Texte behutsam in die Handlung ein. Durch seine präzise, schlichte und zugleich einfühlsame Sprache entsteht ein Werk von großer Glaubwürdigkeit und suggestiver Kraft.

Im Gegensatz zur verbreiteten Vorstellung eines kafkaesken Daseins präsentiert der Roman einen sanften Kafka, der von Hingabe, Verständnis und Hoffnung getragen wird. Zugleich verdeutlichen die fortwährenden Einblicke in Doras Innenleben, wie sie durch ihre Aufopferung für den Gefährten am Leben wächst.

Nach der Lektüre bleibt nicht die bittere Einsicht in ein absurd endendes Leben, sondern eine Erkenntnis: Die individuell empfundene Herrlichkeit des Lebens eröffnet einen tieferen Blick in die Welt.

Kafka. Um sein Leben schreiben (Rüdiger Safranski)

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Safranskis Buch verfolgt eine spezifische Spur im Leben Franz Kafkas; es ist die eigentlich naheliegende: das Schreiben selbst und sein damit verbundener Kampf. Kafka selbst sagte von sich Folgendes: „Ich habe kein litterarisches Interesse sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.“ In den ekstatischen Momenten des Schreibens fühlte sich Kafka erst wirklich lebendig. Safranski fokussiert die äußeren und inneren Bedingungen, die den Schreibprozess des Autors ermöglichen und prägen. Besondere Bedeutung in seiner Darstellung erhält die Begegnung mit Felice Bauer im Jahr 1912, da der Beginn ihres Briefwechsels einen „Augenblick eines schöpferischen Durchbruchs“ darstellt, den Kafka bisher noch nicht erlebt hatte, und der zur Entstehung der Erzählung Das Urteil führte.

Die Interpretationen der Werke Kafkas werden jeweils in Kapiteln präsentiert, die von kurzen biografischen Skizzen begleitet werden. Dabei wird die generelle Notwendigkeit des Schreibens im Kontext der jeweiligen Lebenssituation Kafkas neu bestimmt, wobei der Autor dies mit vielen detaillierten Beobachtungen aus dem Text plausibel macht. Wo es sich anbietet, widmet er sich den großen Themen wie Religion, Schuldgefühlen, dem Vater und der Sexualität. Safranskis umsichtige Annäherung an den Prager Autor ist eine gehaltvolle, gut lesbare Kafka-Biografie samt Werkdeutung für eine breite Leserschaft.

Die Briefe der Puppe (Jürg Amann)

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Als wir in Berlin waren, ging Kafka oft in den Steglitzer Park. Ich begleitete ihn manchmal. Eines Tages trafen wir ein kleines Mädchen, das weinte und ganz verzweifelt zu sein schien. Wir sprachen mit dem Mädchen. Franz fragte es nach seinem Kummer, und wir erfuhren, daß es seine Puppe verloren hatte. Sofort erfindet er eine plausible Geschichte, um dieses Verschwinden zu erklären: ,Deine Puppe macht nur gerade eine Reise, ich weiß es, sie hat mir einen Brief geschickt.‘ Das kleine Mädchen ist etwas mißtrauisch: ,Hast du ihn bei dir?‘ ,Nein, ich habe ihn zu Haus liegen lassen, aber ich werde ihn dir morgen mitbringen.‘ Das neugierig gewordene Mädchen hatte seinen Kummer schon halb vergessen, und Franz kehrte sofort nach Hause zurück, um den Brief zu schreiben.
— Quelle: Diamant, Dora: Mein Leben mit Franz Kafka. In: Hans-Gerd Koch (Hrsg.): "Als Kafka mir entgegen kam...". Erinnerungen an Franz Kafka . Berlin: Wagenbach 2005, S. 174–185.

 

In Die Briefe der Puppe schlüpft Jürg Amann in die Rolle von Kafka und lässt den Leser die verschollenen Reisebriefe der Puppe neu entdecken. Es sind insgesamt 13 Schreiben, die die abenteuerlichen Wege der Puppe nachzeichnen: von Prag über Wien und Kierling bis hin zu ihrem Verschwinden in der Schweiz. Auf ihrem Weg begegnet sie verschiedenen Menschen, von denen einige seltsam vertraut erscheinen, während andere als ein Rätsel auftauchen und unerkannt verschwinden.

Dieser charmante, fantasievolle Band zeigt eindrücklich, wie sich die Realität im künstlerischen Schaffensprozess verändert und ein literarisches Eigenleben gewinnt.

Kafkas Tiere. Fährten, Bahnen und Wege der Sprache (Jochen Thermann)

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Das erzählerische Werk Franz Kafkas ist von zahlreichen ungewöhnlichen literarischen Tieren bewohnt. In Ein Bericht für eine Akademie gewährt ein Affe namens Rotpeter Einblicke in seine Sprachentwicklung, aber auch in Bezug darauf, wie er die „Durchschnittsbildung eines Europäers“ erreicht hat. In Der Bau reflektiert ein nicht näher bestimmtes, grabendes Tier über seine Bauaktivitäten. In Kafkas berühmtester Erzählung Die Verwandlung werden die Herausforderungen des Familienlebens beleuchtet, nachdem die zentrale Figur, der Handlungsreisende Gregor Samsa, sich in ein Insekt verwandelt hat. Diese Figuren agieren als Künstler und Philosophen, sie sind schlau, können sich ausdrücken, zeigen Manieren und bleiben dennoch Tiere.

Die Tiere dienen nicht nur als zentrale Figuren in den Erzählungen, sondern die Erzählungen werden sogar über Tiere fokalisiert. Diese interne Fokalisierung stellt nicht nur eine literarische Innovation dar, sondern wirft auch subjekttheoretische und tierphilosophische Fragen auf. Durch dieses erzähltechnische Verfahren werden die üblichen Unterscheidungen zwischen Mensch und Tier ironisiert und untergraben. So sehr der Leser auch menschliche Züge in ihnen erkennen mag, drängt sich mit ihnen noch stärker das Animalische der menschlichen Existenz auf.

Die Dissertation erforscht die deutlich markierte anthropologische Grenzregion, in der Kafkas Tiere philosophische Horizonte eröffnen, die Wahrnehmung erweitern und sich entlang der Randgebiete von Sprache und Bewusstsein bewegen. In ihnen spiegeln sich Anschauungen aus Biologie, Sprachphilosophie und Kulturkritik wider. Aus ihren Handlungen und Äußerungen entsteht ein poetologischer Zusammenhang zwischen Körper, Sprache und Gedächtnis. Durch die sprachlich evozierte Körperlichkeit gewinnen Kafkas Tiere eine fiktive Wirklichkeit und schaffen einen Resonanzraum beim Leser: Letzterer oder etwas in ihm fühlt sich angesprochen.

Die Spuren von Kafkas Tieren lassen sich als vielschichtige Abdrücke modernen Denkens lesen, anhand derer sich exemplarisch kreuzende Diskurse von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften vorstellen und analysieren lassen.

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