Zwischen Musik, politischem Engagement und Multipler Sklerose Zum 100. Geburtstag von Victor Fenigstein
Obwohl Victor Fenigstein mit einem vielseitigen und in Luxemburg prägenden musikalischen Schaffen aufwarten kann, scheint er mit der Zeit ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein. Zu seinem 100. Geburtstag wird sein Nachlass, der im Centre d’études et de documentation musicales (Cedom) aufbewahrt wird, nun neu gewürdigt.
Die Züricher Jahre (1924-1947)
Viktor Fenigstein wird am 19. Dezember 1924 als jüngster Sohn einer jüdisch-orthodoxen Familie in Zürich (CH) geboren. Der Vater, Berthold Fenigstein (1885-1976), ist Professor für Französisch und Italienisch, studiert in Florenz und Paris und promoviert in Zürich über den Humanisten Leonardo Giustiniani (1386-1446). Als Angehöriger des Bildungsbürgertums pflegt Berthold Fenigstein einen entsprechenden Lebensstil: Neben seinem Beruf als Lehrer verfasst er Sprachlehrbücher, Konzert- und Literaturkritiken in Zeitungen. Dadurch entwickeln sich Kontakte in die Kunst- und Literaturszene von Zürich. Namhafte Dichter wie zum Beispiel Else Lasker-Schüler (1869-1945) und Musiker, wie Feruccio Busoni (1866-1924) sind Bekannte der Familie.
Überhaupt spielt Musik im Hause Fenigstein eine bedeutende Rolle. Die Familie besitzt ein Klavier und „ein gut zusammengestelltes Notensortiment“. Gelegentlich schreibt Berthold Fenigstein kleinere Kompositionen, Gelegenheitsstücke für den privaten Gebrauch. Im erweiterten Familienkreis finden sich mehrere professionelle Musiker z. B. Arnold Fenigstein (1883-1959), diplomierter Musiklehrer und Bratschist im Zürcher Tonhalle-Orchester.
So scheint es folgerichtig, dass Viktor im Alter von vier Jahren von seiner älteren Schwester Erika an das Notenlesen und Klavierspiel herangeführt wird. In dieser Zeit manifestiert sich auch zum ersten Mal sein absolutes Gehör. Nach seiner Einschulung erhält Viktor Geigenunterricht bei seinem Onkel Arnold, den er jedoch mit dem Eintritt ins Gymnasium 1937 abbricht. Stattdessen wird das Klavierspiel wichtiger. Viktor spielt deshalb bei Emil Frey (1889-1946), Professor am Züricher Konservatorium, vor.
Als Fenigstein 1943 das Gymnasium abschließt, kann er erste Kompositionen vorweisen. Die dafür nötigen Kenntnisse bringt er sich als Autodidakt selbst bei. Bereits in den späten 1930ern sind leichte Liedchen (Hopp, Pferdchen, Hopp!) und musikalische Scherze nachweisbar. 1940, im Alter von 15 Jahren, vollendet er die Sinfonie in d-Moll für Streichorchester. Die Stücke sind stark autobiographisch geprägt und spiegeln wichtige Ereignisse im Leben des Schülers wider: So komponiert Fenigstein beispielsweise im Herbst 1942 das Stück Gymi, Ade!, das er den Maturanden des Gymnasiums der Kantonsschule Zürich widmet; auch der Marsch der Flieger-Beobachter steht in einem direkten Verhältnis zu Fenigsteins Lebensweg und nimmt Bezug auf seinen verpflichtenden Fliegerbeobachtungsdienst in der Schweizer Armee zwischen 1943 und 1945. Nachdem Fenigstein seine spätere Ehefrau Marianne Sigg bei einer gemeinsamen Veranstaltung des Jungen- und Mädchengymnasiums 1941 kennenlernt, schreibt er Achtzehn Lieder von Viktor für Mara. Es sind dies romantische Lieder wie Waldmädchen oder Zwei Buchen mit Texten von Rainer Maria Rilke, Eduard Mörike, Carl Friedrich Wiegand, Joseph von Eichendorff, u. a.
Am Konservatorium Zürich nimmt Fenigstein ab 1943 zusätzlich Harmonie- und Dirigierunterricht und geht in die Konzertausbildungsklasse von Emil Frey. 1945 geht er als diplomierter Klavierlehrer ab. Gleichzeitig schreibt er sich an der Universität Zürich ein, studiert Musikwissenschaft, Philosophie, Geschichte, Kunstgeschichte, Psychologie, Pädagogik und Volkskunde.
Als Antwort auf ein zunehmend angespanntes Verhältnis zu seinen Eltern, zieht Fenigstein 1946 aus dem Elternhaus aus. Ab diesem Zeitpunkt beginnt für ihn eine eigene, ganz persönliche Bohème. Er zieht in eine kleine Wohnung in Zürich und wird bald darauf als Barpianist im Hotel Engadiner Hof in Silvaplana für drei Wochen engagiert, wo er nachmittags zum Tee mit Tanzmusik unterhalten soll.
In Zürich wiederum übernimmt Fenigstein die Kurse für gemeinschaftliches Musizieren an der Klubschule Migros. Diese wiederum gehört der Genossenschaft Migros an, einem Konglomerat an verschiedenen Genossenschaften, Aktiengesellschaften und Stiftungen, deren bekanntestes Unternehmen die Supermarkt-Kette Migros in der Schweiz ist. Die Stelle, obschon schlecht bezahlt, erlaubt es Fenigstein, Erfahrungen im pädagogischen Bereich zu sammeln. Um sein Gehalt aufzubessern, schreibt er außerdem Konzertkritiken, die in den Zeitungen Tagesanzeiger und Volksrecht erscheinen.
Während dieser Zeit freundet sich Fenigstein mit Felix Brun, einem Studenten der Romanistik, an. Beide jungen Männer verstehen sich so gut, dass sie kurzerhand zusammenziehen. Brun führt Fenigstein in den Marxismus ein, diskutiert mit ihm über den Zusammenhang zwischen Marxismus und Sprachwissenschaft, empfiehlt ihm die Schriften Lohnarbeit und Kapital (1847) von Karl Marx und Anti-Dühring (1877) von Friedrich Engels. Fenigstein, der bereits in jungen Jahren belesen ist, kann sich mit dem sozialistischen Gedankengut und den kommunistischen Kreisen, mit denen er in Berührung kommt, gut identifizieren.
In diesen prägenden Jahren arbeitet Fenigstein weiter an seiner Karriere als Solist: Mehrmals tritt er im Gymnasium Anfang der 1940ern auf und nimmt an Wettbewerben teil. Bei einer Bach-Händel-Matinee, organisiert vom Akademischen Orchester Zürich, wird Fenigsteins Beitrag als „gewandtes, schlankes und stilkundiges Kammerspiel“ bezeichnet. Bei einem Konzert älterer und moderner italienischer Musik, organisiert von der Società Dante Alighieri in Zürich, tritt Fenigstein im kleinen Kammerensemble mit der professionellen Geigerin und Kusine seines Vaters, Ilse Fenigstein (1910-1987), auf.
Umsiedlung nach Luxemburg und Ende der Solistenkarriere
1947 bewirbt sich Fenigstein auf die Professur für Klavier am Konservatorium Luxemburg. Er geht aus dem internationalen Wettbewerb als Sieger hervor und tritt 1948 seine Stelle an. Von da an schreibt er seinen Namen französisch aus: „Victor“. Die Hochzeit mit Marianne Sigg findet 1949 in Zürich statt. Aus der Ehe gehen zwei Töchter hervor.
Als Pädagoge tritt Fenigstein in dieser Zeit vor allem bei den Klassenvorspielen in Erscheinung. 1976 publiziert er beim Verlag Eulenburg in Zürich eine Klavierschule mit dem Titel Fang vierhändig an. Die Publikation verfolgt die Zwecke, das vierhändige Klavierspiel zu erlernen, das gemeinsame Musizieren von Anfang an zu üben und die Unabhängigkeit der beiden Hände zu trainieren. Auch seine solistische Tätigkeit führt Fenigstein in Luxemburg fort. 1949 tritt er zum 100. Todestag von Frédéric Chopin als Solist bei einem Gedenkkonzert auf und gründet mit Jean Join, Jules Kruger und René Eiffes das Quatuor à Clavier de Luxembourg.
1952 bricht bei Fenigstein Multiple Sklerose aus. Die neurologische Erkrankung verursacht Verkrampfungen und Lähmungen in den Gliedmaßen, auch in Händen und Fingern. Der Traum einer Karriere als Solopianist rückt somit in weite Ferne. Nachdem Fenigstein zunächst weniger als Klavierspieler aufgetreten ist, verabschiedet er sich bereits 1961 ganz von öffentlichen Auftritten.
Fortan konzentriert er sich stärker auf das Komponieren. Bereits nach seinem ersten MS-Schub vertont er noch im Krankenbett die Kantate Et le jour se leva pour lui auf Gedichte von Paul Éluard.
1955 erkrankt seine Frau und muss mehrere Wochen im Krankenhaus verbringen. Um die finanzielle Situation der Familie zu entspannen, bessert Fenigstein sein schmales Gehalt als Lehrer am Konservatorium mit Privatstunden auf. Außerdem entscheidet er sich, mit dem Komponieren ein zusätzliches Standbein aufzubauen. Eine Gelegenheit bietet sich beim Rundfunk, wo neue Chansons und Schlager immerzu gesucht sind und gut bezahlt werden.
Zugang zu dieser Welt verschafft ihm sein Nachbar Robert Finet (1917-1991), besser bekannt unter dem Künstlernamen Robert Alain. Robert Alain ist Speaker bei R.T.L. in der Villa Louvigny. Der gebürtige Franzose arbeitet bereits 1936 beim französischen Rundfunk, moderiert Sendungen, schreibt Texte für Chansons. Entsprechend gut ist er vernetzt: Er kennt Künstler, Texter, Sänger und Arrangeure. Durch ihn kann Fenigstein Kontakte bis nach Paris knüpfen.
Ich war fest entschlossen, mit dem Komponieren Geld zu verdienen. So habe ich es mit Schlagern und Chansons versucht und Verbindungen zu Paris angeknüpft. In jedem Monat war ich eine Woche lang dort, um Kontakte aufzunehmen und zu pflegen.
In Vorbereitung auf diese Besuche, schreibt Fenigstein kurze Melodien mit oder ohne Harmonisierung. Für diese „Einzeiler“ versucht er dann einen Texter zu finden. Im besten Fall lässt sich, nachdem das Produkt fertig komponiert ist, das Stück an einen Interpreten oder einen Musikverlag verkaufen.
Es war eine wichtige Erfahrung, und ich habe dabei enorm viel gelernt. In musikalischer Hinsicht war es eine schwierige Aufgabe, mit acht Takten etwas zustande zu bringen, was ‚haltbar‘ ist, aussagekräftig und doch einfach. Ich habe auch eine tiefe Einsicht in das Musikgeschäft […] erhalten.
Tatsächlich hat Fenigstein unter seinem Pseudonym Victey Forain einige Male Erfolg. Einige Lieder mit Texten, etwa von Maurice Pon (1921-2019) werden sogar auf Platte aufgenommen, wie zum Beispiel Le printemps, le printemps, le printemps, oder Les jardins de Vienne. Bei Musikverlagen publiziert werden Boutons d’or et marguerites und J’en ai assez. Auch auf deutsche Texte komponiert Forain, die dem Genre des Kabaretts zuzuordnen sind. So entstehen Die Henkerkomödie und einige Chansons auf Texte von Fritz Grasshoff. Um die Tantiemen für seine Stücke einzustreichen, schreibt sich Fenigstein deshalb 1954 bei der Société des Auteurs, Compositeurs et Éditeurs de Musique (S.A.C.E.M.) ein.
Doch der erwartete Durchbruch sowie der ersehnte Geldsegen bleiben aus. Die Paroliers aus Paris sind an einer Zusammenarbeit mit Fenigstein nicht interessiert, da er als Professor am Konservatorium der Stadt Luxemburg ein stabiles Einkommen hat. Im Gegenteil: Sie erwarten sich durch ihn eine Möglichkeit beim Sender R.T.L. in Luxemburg Fuß zu fassen und so selbst einen Karrieresprung zu machen. 1960 stellt Fenigstein die Aktivität auf diesem Gebiet ein und widmet sich wieder, wie er es nennt, der „ernsten Muse“.
Politisch und gesellschaftlich engagierte Musik
Fenigstein komponiert sowohl Kammermusik als auch große Orchesterwerke. Obwohl auch Stücke zu finden sind, die für sich stehen, wie zum Beispiel das Trio pour violon, alto et violoncelle (1954) oder das Concerto pour hautbois et orchestre à cordes (1961), ist das Besondere an Fenigsteins Musik, dass sie zu großen Teilen einen politischen oder gesellschaftlichen Bezug hat. Auf die Frage, was er mit seiner Musik bezwecke, merkt Fenigstein an:
Was möchte ich mit meiner Musik bewirken? An erster Stelle steht, dass es mir selber besser geht, wenn ich sie aufnotiert habe. Denn ich schreibe mir ja von der Seele, was mich bewegt. Und das ist ja vieles an diesem ja unter anderem so scheußlichen Leben der Menschheit – ich muss es loswerden. Und freilich lasse ich die Hoffnung durchscheinen, dass es nicht immer so sein wird, wie es ist, dass der Mensch sich ändern kann.
Diese Politisierung beginnt bereits in jungen Jahren in Zürich, in denen Fenigstein als Jude in der Schule regelmäßig antisemitischen Beschimpfungen und Angriffen ausgesetzt ist. Prägend sind auch die Stigmatisierung seines Elternhauses im Zweiten Weltkrieg sowie die Verfolgung und Ermordung von Verwandten in Vernichtungslagern.
Diese Erfahrungen schlagen sich zum Beispiel in Leserbriefen nieder, die Fenigstein als Student gegen Rassismus und Faschismus schreibt. Später komponiert Fenigstein das Stück Trois esquisses juives (1964) und besinnt sich damit auf seine Wurzeln. Die einzelnen Sätze des Stückes betitelt er zum Teil mit jiddischen Begriffen.
Markante Beispiele für Fenigsteins musikalische Umsetzung der gesellschaftlichen Fragen sind seine Stücke Seventeen Millions (1979) und Die Heilige Johanna der Schlachthöfe (1982-84).
Seventeen Millions schreibt Fenigstein, als er aus einem Bericht der UNICEF erfährt, dass 1978 siebzehn Millionen Kleinkinder weltweit im Alter von 0 bis 4 Jahren an Unterernährung und fehlender medizinischer Betreuung gestorben sind. In Montage-Manier reiht er Textauszüge aus diversen Quellen aneinander, die er dann mit Musik unterlegt. Er übt vor allem Kritik am Umgang der Öffentlichkeit und der Politik mit den Ereignissen und empfindet die Reaktionen darauf als unzulänglich.
Zu Bertolt Brechts (1898-1956) Literatur fühlt sich Fenigstein hingezogen und sieht sich darin bestätigt. Das Singspiel Die heilige Johanna der Schlachthöfe nach dem gleichnamigen Theaterstück Brechts vertont Fenigstein zwischen 1982 und 1984. Das Stück spielt in den 1920ern in einer Fleischfabrik in Chicago und ist eine Kritik an den Manipulationen des kapitalistischen Marktes, wie sie zu dieser Zeit in Amerika stattfinden. Weil die Thematik des Stückes an sich bereits komplex ist, entscheidet sich Fenigstein in seiner Vertonung dafür, die Musik möglichst text- und sinnunterstützend zu gestalten. Die „Spielunterlage“ soll dem Publikum ein besseres Verständnis für den Text bieten und zum genauen Zuhören animieren.
Lebensende und Tod
Die fortschreitende Multiple Sklerose hindert Fenigstein ab 1986 daran, von Hand zu komponieren. Fortan wird er sich auf Notenprogramme und den Computer verlassen, auf denen er zum Beispiel die Komposition von Shakespeare’s Sonnets I-CLIV beendet. Weil sein gesamtes Schaffen, mit Ausnahme der achtzehn Lieder für seine Frau Marianne, in Luxemburg entstanden ist, betrachtet er sich als Luxemburger Komponist und nimmt 2009 die Staatsbürgerschaft an.
Am 12. Januar 2022 verstirbt Victor Fenigstein im Alter von 97 Jahren. Fenigsteins musikalisches Werk hat in der luxemburgischen Musikgeschichte Alleinstellungsmerkmal. Seine in die Avantgarde tendierenden Kompositionen, durch die er auf soziales und politisches Unrecht hinweist, zählen zu den wichtigsten des 20. und 21. Jahrhunderts. Fritz Hennenberg, Musikwissenschaftler und Freund der Familie, hat Fenigsteins Leben und Werk in zwei Publikationen aufgearbeitet.
▪ Eine Auswahl an Dokumenten zu Victor Fenigstein ist in den Vitrinen vor dem Rara-Lesesaal im ersten Stock bis Ende Oktober 2024 ausgestellt.
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