Von Bildern, die sich selber malen Die Professorenkleckse des Friedlieb Ferdinand Runge
Nichts Geringeres als das alles Leben hervorbringende Wirkprinzip - die „Lebenskraft“ - vermutete der Chemiker F. Ferdinand Runge (1794-1867) hinter dem „Bildungstrieb“, der die eigentümlichen Farbfiguren entstehen ließ, wenn er in seinem Labor Lösungen verschiedener Substanzen auf unversiegeltes Papier aufbrachte.
Runge war, wiewohl kurzzeitig Professor in Breslau, zunächst ein begnadeter Praktiker, dem bereits in jungen Jahren die Charakterisierung der Inhaltsstoffe arzneilich genutzter Nachtschattengewächse (Hyoscyamin bzw. Atropin) gelungen war, gefolgt von der Isolierung wichtiger Naturstoffe, etwa des Chinins aus Chinarinda und des Coffeins aus Kaffeebohnen, die Goethe zu diesem Zweck ihm eigens überlassen hatte. Als Industriechemiker schuf er mit der Entdeckung des Phenols und des Anilins die Grundlage für die Herstellung vieler Arznei- und Farbstoffe, der beiden Pfeiler der nunmehr aufblühenden chemischen Industrie.
„Professorenkleckse“
In seinen „Bildern“ waren es Metallsalzlösungen, die sich zu bunten, merkwürdig konturierten, und mitunter gespenstisch anmutenden Gestalten wandelten. Runge arbeitete mit Vorliebe mit Kupfer-, Eisen- und Manganverbindungen sowie mit dem damals als „gelbes Blutlaugensalz“ oder „gelbes Cyaneisenkalium“ bekannten Reagenz (gemeint ist das heute als Kaliumhexacyanoferrat(II) bezeichnete Komplexsalz). Mit Eisen ergibt dieses den viele der Rungeschen Bilder kennzeichnenden, tiefnachtblauen Ton (das entsprechende Pigment ist als Berliner- oder Preußischblau bekannt). Infolge der Diffusion der Lösungen auf dem Papier, der Kapillarwirkung der Faser und der chemischen Reaktionen der aufgetragenen Komponenten untereinander entstanden so Runges „Musterbilder“, von ihm selbst bescheiden und liebevoll-selbstironisch „Professorenkleckse“ genannt. Je 126 dieser „selbständig gewachsenen“, annähernd 4 x 5 cm großen Bilder veröffentlichte Runge 1850 in Buchform, unter dem Titel Zur Farben-Chemie. Musterbildung für Freunde des Schönen usw. Das Besondere daran: Jedes Exemplar war ein Unikat; so waren alle darin eingeklebten Bilder nicht etwa drucktechnische Nachbildungen, sondern handgefertigte Originale, davon jedes in doppelter Ausführung. Er scheute diesen Aufwand nicht, um eindrücklich belegen zu können, dass die verwirrende Vielfalt an Formen und Farben nicht etwa dem Zufall geschuldet war, sondern eben weil reproduzierbar, Regeln und Gesetzmäßigkeiten unterlag. Die Gestaltung jedes einzelnen Exemplars war mithin beispiellos aufwendig, und entsprechend gering muss die Auflagenhöhe gewesen sein. Weltweit sind weniger als ein Dutzend dieser Bücher erhalten, sie gelten als ausgesprochen bibliophile Raritäten. Noch seltener sind die Exemplare der Folgepublikation Der Bildungstrieb der Stoffe, veranschaulicht in selbständig gewachsenen Bildern usw., die Runge fünf Jahre später im Selbstverlag herausgab: Jedes Exemplar enthält je 32 etwa 12 x 14 cm große, originale „Bilder“, ebenfalls alle in doppelter Anfertigung. Sowohl diese als auch die gedruckten Erläuterungen sind auf schwarze, zu einem Heft zusammengebundene Bögen aufgeklebt. Ein Exemplar befindet sich unter der Signatur L.P. 7189 im Besitz der Luxemburger Nationalbibliothek. Dessen Einband trägt den handschriftlichen Vermerk „Bibliothèque de l’Athénée R.G.D. de Luxembourg“, die Jahreszahl 1865 sowie den Namen des luxemburgischen Geistlichen, Lehrers und Gründungsmitglieds der Société des Sciences Naturelles, Johann-Peter Maeysz (1780-1866).
Es war Runge ein besonderes Anliegen, Wissenschaft möglichst leicht verständlich, anschaulich und für jedermann zugänglich zu kommunizieren. Davon zeugen der Titel eines seiner Lehrbücher (Grundlehren der Chemie für jedermann) wie auch die von ihm geübte Praxis, seine Werke mit Originalproben der beschriebenen Substanzen auszustatten. So enthält sein dreibändiges Werk Farbenchemie echte, eingefärbte Textilproben. Seine Lehrbücher, die oben genannten Grundlehren und auch der Grundriss der Chemie sind mit 2.8 x 2.8 cm großen, eingeklebten Substanzproben bebildert. Von den Grundlehren besitzt die Nationalbibliothek je ein Exemplar der zweiten und dritte Auflage, von 1833 bzw. 1843, und den vollständigen Grundriss in zwei Teilen von 1846 bzw. 1847.
Vom Nutzen der Erfindung
Mit seinen „Musterbildern“ gilt Runge vielen als Erfinder, zumindest aber als Wegbereiter der (Papier-)Chromatographie. Das Verfahren beruht auf den unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit denen Stoffe von einem sich im Papier ausbreitenden Lösemittel mitgeführt werden, um so eine Auftrennung komplexer Stoffgemische in deren Komponenten zu bewirken. Daraus ergibt sich eine Vielzahl an Weiterentwicklungen, etwa Dünnschicht-, Flüssig-, Ionen- und Gaschromatographie, die aus der modernen chemischen Analytik nicht mehr wegzudenken sind. Runge selbst schien das Potential seiner „Musterbilder“ als chemisches Trennverfahren nicht erkannt zu haben, er sah darin zunächst eine materialsparende Technik der qualitativen Analyse, die es erlaubte, mit wenigen, auf Papier aufgetragenen Tropfen charakteristische Nachweise zu führen - sie könnte somit eher als Vorläufer der später von Feigl begründeten Tüpfelanalyse gelten. Als mögliche Anwendung etwa sah er die Herstellung fälschungssicherer Banknoten, indes standen für Runge ästhetische und philosophische Gedanken im Vordergrund: In seinen „organisch“ gewachsenen, sich selbst regelhaft entwickelnden Bildern meinte Runge ein „Vorbild“ desselben Entfaltungsmovens alles Lebendigen zu erkennen, das die Vitalisten als „Lebenskraft“ bezeichneten. Runge selbst bevorzugte für jenes „Vorbild“ den Begriff des „Bildungstriebs“ des Zoologen J.F. Blumenbach (1752-1840), wenngleich der Vitalismus bereits zu Lebzeiten Runges seit der Synthese des Harnstoffs durch Wöhler (1828) als widerlegt galt. Runge war ein überaus produktiver Wissenschaftler, vor allen Dingen aber ein origineller und unangepasster Denker; überdies überliefert ist eine gewisse Kauzigkeit.
Erschienen in Die Warte, 16. November 2023.
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