Luxemburger Druckgrafik seit 1945 Wandlungen eines künstlerischen Mediums
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts trug die Verbreitung fotomechanischer Reproduktionstechniken zur Massenherstellung von Bildern bei. Um ihre eigenen Druckwerke in kleinen Auflagen von industriellen Verfahren zu unterscheiden, begannen manche Künstler die Menge an gedruckten Grafiken zu limitieren, zu nummerieren und zu signieren. Ob komplett eigenhändig oder in Kollaboration mit handwerklich spezialisierten Druckern gefertigt, hat sich die Originalgrafik in Europa als künstlerisches Medium neben Malerei, Skulptur und Fotografie etabliert und ist auf ein zunehmend aufnahmebereites Publikum gestoßen.
Obwohl das Großherzogtum keine jahrhundertealte Tradition besitzt, finden sich auch in Luxemburg handwerklich hervorragende Beispiele der Druckgrafik, deren Produktionsbedingungen sich mit der Gründung der Ateliergemeinschaft Empreinte 1995 erheblich verbesserten. In der jüngst eröffneten Doppelausstellung Figure in Print im MNHA und in der Nationalbibliothek sind rund 170 Werke von 84 Künstlerinnen und Künstlern zu sehen, welche die spezifischen Eigenschaften des Mediums illustrieren und die jeweiligen Vorlieben für klassische Techniken oder neue Mittel augenscheinlich machen. Zusätzlich zu den traditionellen Hoch- und Tiefdrucktechniken, bei denen ein Druckstock manuell und chemisch bearbeitet wird, existieren heute moderne Flachdruckverfahren wie Siebdruck, sowie verschiedene fotomechanische und digitale Prozesse, mit denen Künstlerinnen und Künstler Druckgrafiken auf Papier in limitierter Auflage herstellen und dadurch die Grenzen manueller und automatischer Herstellung zunehmend verwischen.
Für The dignity of popular culture (2017), ein Blatt aus der Sammlung der Nationalbibliothek, griff Pit Molling (*1984), einer der Vertreter der jüngsten Generation, zum digitalen Zeichenblock und Tintenstrahldrucker. Der Preisträger des Prix Révélation des Cercle Artistique du Luxembourg von 2019 experimentiert mit analogen und digitalen Prozessen und thematisiert die Entwicklung von Kunst und Gesellschaft im digitalen Zeitalter und in einer zunehmend unpersönlichen Welt. Er begann 2010 mit dem Stift auf Bildschirm zu zeichnen: als Erstes digitalisierte er die Formen der Natur, indem er ihre grundlegenden Strukturen wie mit einem elektronischen Grabstichel auf einen Touchscreen gravierte.
Beim direkten digitalen Zeichnen ist das Zeichengefühl anders als auf Papier oder auf einem Druckstock. Einerseits stellen Stiftpräzision und Druckempfindlichkeit des elektronischen Stylus, des Eingabegeräts, dessen Ansprechverhalten lange geübt werden muss, große Herausforderungen an den Künstler. Andererseits bietet die digitale Zeichnung eine Feinheit des Strichs, wie sie analog höchstens im Kupferstich möglich wäre. Die Strichdicke, bei Molling 1 Pixel, wird im Voraus im Verhältnis zur Bildgröße definiert. Dann werden Tausende von hauchdünnen Strichgarben auf ein Tablet gezeichnet, wobei der Künstler hinein- und herauszoomt, so dass sich die Hand für einen Strich von ein paar Millimeter über die ganze Bildschirmfläche bewegt. Das Detailfoto zeigt die leichte und schwebende Feinstruktur der digitalen Zeichnung. Durch die Simultaneität der verschiedenen Maßstäbe entsteht aus der Unmenge der gezeichneten Figuren schließlich eine dichte optische Masse, schwer und bodenverbunden, die auf die Topografie des Großherzogtums anspielt.
Die spezifische Arbeitsweise und die Ausdrucksqualität machen die Verwendung digitaler Techniken für den Zeichner Pit Molling zu einem adäquaten grafischen Medium. Auch wenn am Endprodukt kaum noch erkennbar ist, wie groß der Anteil eigenhändiger Manipulation durch den Künstler war, entwickelt dieser, in der Auseinandersetzung mit modernster Technologie, seine schöpferische Fantasie zu einer ganz persönlichen Sprache, die, materiell und ästhetisch gleichwertig, die innere Signatur der Druckgrafik trägt.
Erschienen in Die Warte, 25. Februrar 2021, S. 13.
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