Klein-Harvard an der Sauer Die Echternacher Klosterschule um das Jahr 1000

Handschriftensammlung

Luc Deitz

Wer kennt sie heute noch, die septem artes liberales, die „sieben freien Künste“, bestehend aus Trivium und Quadrivium, die den spätantiken Bildungskanon bildeten und deren Beherrschung im frühen Mittelalter die Voraussetzung für ein Studium an einer der drei Fakultäten (Theologie, Jurisprudenz und Medizin) bildete? Im Trivium („Dreiweg“) erlernte man die Künste des Wortes: Grammatik (Lesen und Schreiben), Rhetorik (formvollendeter Ausdruck) und Dialektik (logisch korrektes Argumentieren), während das Quadrivium („Vierweg“) den Wissenschaften der Zahl vorbehalten war: Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie.

In den Sammlungen der BnL hat sich ein auf Pergament (Tierhaut) geschriebenes, ca. 600 x 420 mm großes Einzelblatt erhalten, das beweist, dass dieser Kanon um das Jahr 1000 auch in Luxemburg, genauer, in Echternach unterrichtet wurde. Der Luxemburger Staat hat es 1951 zusammen mit der sog. „Echternacher Riesenbibel“ (BnL Ms. 264) erworben, in die es zur Verstärkung des Rückendeckels eingebunden war; heute ist es ausgelöst und wird separat unter der Signatur Ms. 770 aufbewahrt.

BnL, Ms 770, Rectoseite

Auf der (hier nicht abgebildeten) Rückseite finden sich über 80 logische Schemata aus den Bereichen der Begriffslogik und der Syllogistik, also dem letzten Teil des Triviums, dessen Beherrschung im antiken Verständnis die Beherrschung der propädeutischen Wissenschaften von Grammatik und Rhetorik notwendigerweise voraussetzte. Fragt man nach der Quelle dieses Abrisses der klassischen Logik, stößt man auf den Namen des letzten spätantik-römischen Universalgelehrten Boëthius, der ca. 525 als Opfer einer diffamatorisch gegen ihn gerichteten Verleumdungskampagne unter dem Ostgotenkaiser Theodrich wegen Hochverrats hingerichtet wurde. Boëthius hatte ein ehrgeiziges Bildungsprojekt verfolgt, wollte er doch sämtliche Schriften von Platon und Aristoteles ins Lateinische übersetzen und mit Kommentaren versehen, wozu es aber durch seinen frühen Tod nicht kommen sollte. Erhalten ist gleichwohl seine Übertragung der sog. „Isagoge“ des Neuplatonikers Porphyrios (3. Jh. n. Chr.), einer Einleitung in die Philosophie im Allgemeinen und in die Logik im Besonderen, die unter dem Titel „Quinque voces“ („Fünf Begriffe“; gemeint sind die sog. Prädikabilien: Gattung, Art, Differenz, Proprium, Akzidenz) das Denken des Mittelalters bis weit ins 12. Jahrhundert hinein maßgeblich prägen sollte. Das Echternacher Fragment zeugt von einer intensiven Auseinandersetzung mit ebendiesem Text.

Interessanter aber ist die hier abgebildete Vorderseite. Auf der unteren Hälfte findet man Elemente aus Boëthius’ „De institutione musica“, die hauptsächlich die Intervalltheorie betreffen. Dass musiktheoretische Fragen – also der dritte Teil des Quadriviums – im Kloster Echternach im Früh- und Hochmittelalter auf hohem Niveau erörtert wurden und zweifellos auch in die musikalische Praxis Eingang fanden, wird durch eine Reihe weiterer Handschriften bestätigt, die heute noch in der BnL enthalten sind.

Besondere Aufmerksamkeit verdient freilich die obere Hälfte. Was dort dargestellt ist, ist ein sog. „Abacus“, eine Art Rechencomputer avant la lettre, der es ermöglichte, mit Hilfe von in die vertikal verlaufenden Kolonnen gelegten Zählsteinen die Zehnerpotenzen zu errechnen. Bei unserem Blatt (das von rechts nach links zu lesen ist) fehlen die ersten drei Kolonnen; ein vollständiger Abacus erlaubt es, wenn man damit umzugehen versteht, relativ mühelos Rechnungen bis zum Wert von 1026 (d.h. hundert Millionen Milliarden Milliarden) durchzuführen. Wichtig ist hierbei die Feststellung, dass der Zahlenwert erstmals durch die Stellung bestimmt und die Null als neutrale Zahl, gewissermaßen als Platzhalter verwendet wird, was beim Rechnen mit römischen Zahlen nicht möglich war. Denn dies ist das eigentlich Erstaunliche an dem Echternacher Blatt: Im römischen Rechensystem haben die Buchstaben mit Zahlenwert (I, V, X, L, C, D, M) zwar einen Eigen-, aber keinen Stellenwert. 7 mal 14 ist 98, aber wieviel VII mal XIV ist, ist nicht so unmittelbar ersichtlich. (Das Resultat kann man übrigens sowohl unter der Form XCVIII als auch unter Form IIC schreiben.)

Unter Mathematikhistorikern wird gemeinhin angenommen, dass es der Benediktinermönch Gerbert von Aurillac (946-1003) war, der sowohl die (auf indischen Vorbildern beruhenden) „arabischen“ Ziffern als auch die Null in Europa einführte; auf unserem Abacus ist (in dem jeweils kleinsten der drei Halbkreise) eine der frühesten überhaupt erhaltenen Formen der Zahlen 2-9 zu sehen. Gerbert unterrichtete von 972 bis 983 an der Kathedralschule von Reims; zu seinen Schülern gehörte der junge deutsche Kaiser Otto III., der ihn 999 unter dem Namen Silvester II. zum Papst des „An Mil“ krönen ließ. Desweiteren unterhielt er gute Beziehungen zum Benediktinerkloster Mettlach, das unter Abt Ruotwic (941-975) eine Hochburg der Wissenschaften in Lotharingien war. Möglicherweise war es der 993 von Mettlach nach Echternach geflohene englische Mönch Leofsin, der dort den Abacus, die „arabischen“ Zahlen und die Null einführte. Aber unabhängig davon, wie dieser Wissenstransfer im Einzelnen vor sich gegangen sein mag – bereits tausend Jahre vor der Gründung der uni.lu hatte Luxemburg ein Klein-Harvard an der Sauer.

Bibliographie

Erschienen in Die Warte, 9. Dezember 2021, S. 11.

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