Wir sind hier, um Zeuge zu sein : ein Lesebuch herausgegeben von Judith Schalansky
„Wir sind hier, um Zeuge zu sein. Was sollen wir sonst mit diesen stummen Dingen machen, die wir nicht brauchen?“, so schreibt Annie Dillard (1945*) in ihrem Essay „Einen Stein zum Sprechen bringen.“ Das obige Zitat gibt der hier besprochenen Anthologie ihren Namen. 2023 in der Reihe Naturkunden erschienen, versammelt sie 15 Autorinnen und Autoren aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert, die eines eint: das Verlangen, literarische Zeugenschaft abzulegen über die Welt, die uns umgibt. „Wir haben nichts als unsere Sinne, um der Welt zu begegnen“, so Herausgeberin Judith Schalansky. Im literarischen Genre des Nature writing wird versucht, das einzufangen, das zu dokumentieren und fassbar zu machen, was selbst keine Sprache hat – oder aber eine Sprache, die dem Menschen fremd ist.
In den letzten Jahrzehnten rückte diese Art des Schreibens vermehrt in den Fokus der literarischen Öffentlichkeit, vor allem deshalb, weil ihr Gegenstand, die Natur, im Zuge der Modernisierungsprozesse zusehends umgeformt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde. Nature writing ist zwangsläufig eine Literatur, die in Reaktion auf Verlust- und Entfremdungserfahrungen entsteht. Die hier versammelten Berichte lassen sich sowohl als Dokumentation als auch als Beschwörung dessen lesen, was womöglich für immer verloren ist. Mit der Akribie eines Naturkundlers, aber dem Tenor eines Dichters beschreibt z.B. der Pastor Gilbert White (1720-1793) die Flora und Fauna seiner Gemeinde in Hampshire. Besonders angetan haben es ihm die gefiederten Bewohner seiner Heimat sowie ihre eigentümlichen Wege der Kommunikation. Rund 200 Jahre später stellt sein Landsmann John Alec Baker (1926-1987) den Wanderfalken in den Mittelpunkt einer ins Rauschhafte gesteigerten Ode an die Natur. Auch der eigentliche Begründer der Nature Writing- Tradition, der amerikanische Philosoph und Essayist Henry David Thoreau (1817-1862), kommt zu Wort, genauso wie der erst kürzlich verstorbene Umweltaktivist Roger Deakin (1943-2006), der in seinem „Logbuch eines Schwimmers“ von einem exzentrischen politischen Manifest berichtet: In einem Jahr durchschwamm er alle Gewässer Großbritanniens – von Gebirgsseen über wilde Flussläufe bis hin zu verdreckten Bewässerungsgräben – „als Wiederaneignung der durch Verseuchung und Privatisierung entfremdeten Natur“, wie Judith Schalansky im erkenntnisreichen Vorwort erläutert.
Dies sind nur einige der mannigfaltigen literarischen Stimmen, die in dieser unbedingt lesenswerten Anthologie zu Wort kommen. Ob Vögel, Wüsten, Wälder, Flüsse, Berge, Bäume, Gärten oder Steine – die hier versammelten Schreibenden bringen alles und jeden zum Sprechen.
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