Thomas Mann zum 150. Geburtstag Literarische Dimensionen eines Jahrhundertautors
Welch eine herrliche Gabe ist nicht die Phantasie, und welchen Genuß vermag sie zu gewähren!
Thomas Mann zählt zu den produktivsten und wirkungsreichsten deutschsprachigen Autoren der Moderne. Sein literarisches Werk entstand zwischen 1893 und 1955 und umfasst acht Romane, über dreißig Erzählungen, ein Drama, ein Versepos sowie zahlreiche Essays, autobiografische Texte, Vorträge, Reden, politische Stellungnahmen und fast dreitausend Briefe. Zeit seines Lebens führte er darüber hinaus ein umfangreiches Tagebuch.
Manns Werk entstand im Spannungsfeld vielfältiger politischer und gesellschaftlicher Umbrüche Deutschlands – vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und die Zeit des Exils bis hin zur Nachkriegszeit. 1929 wurde ihm für seinen ersten Roman Buddenbrooks. Verfall einer Familie der Nobelpreis für Literatur verliehen. Der 1901 erschienene Roman gilt als Schlüsselwerk seiner Epoche.
In seinen großen Erzählwerken wie Buddenbrooks (1901), Der Tod in Venedig (1912), Der Zauberberg (1924) oder Doktor Faustus (1947) setzt sich Thomas Mann mit der literarischen Tradition, dem Ästhetizismus, Schopenhauers Pessimismus, Wagners Musik und Nietzsches Philosophie auseinander. Gleichzeitig beschäftigt er sich mit der aufkommenden Psychoanalyse, den Traumata zweier Weltkriege, neuen gesellschaftlichen Strukturen, veränderten Geschlechterordnungen und den Medien der Moderne. Dabei bleibt das Denken Nietzsches, Schopenhauers und Wagners ein fortwährender Resonanzraum, den Mann stets kritisch hinterfragt.
Seine Prosa zeichnet sich durch Perspektivenwechsel und die Gleichzeitigkeit divergierender Deutungen aus. Themen wie die Übergänge zwischen Schönheit und Verfall, Gesundheit und Krankheit, Ordnung und Exzess durchziehen sein Werk und spiegeln sich in einem Stil wider, der Distanz wahrt und gerade darin seine Modernität offenbart.
Thomas Manns Schreiben ist von einem inneren Zwiespalt geprägt: dem Streben nach einem individualistischen künstlerischen Ausdruck und dem gleichzeitigen Bedürfnis, den Konventionen kleinbürgerlicher Moralvorstellungen gerecht zu werden. Der Gegensatz zwischen Künstlertum und Bürgertum prägte nicht nur Manns Werke, sondern auch sein Leben und seine Persönlichkeit. Dieser Kontrast war – wie bei einigen seiner Figuren – Quelle seines künstlerischen Schaffens.
Anfang der 1920er-Jahre wandelte sich Mann, der der neuen Demokratie zunächst skeptisch gegenüberstand, zu einem entschiedenen Verfechter der Weimarer Republik. Als überzeugter Demokrat und kritischer Intellektueller trat er klar gegen den Nationalsozialismus auf und setzte sich für Freiheit und grundlegende Rechte des Einzelnen ein. Sein Engagement bleibt eine wichtige Inspirationsquelle für die Verteidigung demokratischer Werte.
Manns Texte sind einerseits formal und stilistisch meisterhafte Kunstwerke, die seinem sozialen Selbstverständnis und seinem Anspruch an intellektuelle Leistung und ästhetische Wirkung gerecht werden. Gleichzeitig lassen sich Teile seines Werks als Sublimierung unerfüllter Wünsche und Lebenserfahrungen lesen, die im künstlerischen Ausdruck eine ästhetische Transformation erfahren.
Die folgende Leseliste lädt dazu ein, Thomas Manns Leben und Werk anhand ausgewählter Sekundärpublikationen zugänglich zu machen, seine fundamentalen Ideen zu reflektieren und ihre anhaltende Relevanz für die heutige Zeit zu entdecken. Die Titel unterstreichen die bleibende Aktualität seines Denkens und die fortwährende Wirkung seiner literarischen und intellektuellen Auseinandersetzungen.
Thomas Mann. Glanz und Qual (Hanjo Kesting)
Hanjo Kestings Buch ist das Ergebnis einer lebenslangen Auseinandersetzung mit Thomas Mann – geprägt von kritischer Nähe und reflektierter Distanz. In zwölf facettenreichen Essays, Werkdeutungen und biografischen Annäherungen entsteht ein vielschichtiges Porträt des Schriftstellers Thomas Mann, der 1953 in seinem Tagebuch eine bittere Lebensbilanz zog: „Alte, peinliche Lebenserinnerungen, zwanghaft, wie oft. War nicht das ganze Leben peinlich. Es gab wohl selten ein solches Ineinander von Qual und Glanz.“
Mit Ernst und Empathie begegnet Kesting den Selbstzweifeln und literarischen Maskeraden Thomas Manns. Über jenem Abgrund von Qual, Not und Schmerz, aus dem seine Prosa emporragt, entfaltet Kesting eine beeindruckende Tiefenschärfe – exemplarisch an Buddenbrooks, Der Zauberberg, Joseph und seine Brüder, Lotte in Weimar, Der Erwählte sowie der späten Erzählung Die Betrogene.
Besonderes Augenmerk gilt den autobiografischen Stilisierungen und Sublimierungen, mit denen Thomas Mann sein Leben literarisch überhöhte. Kesting verknüpft Tagebuchaufzeichnungen und Briefzitate mit interpretierenden Rückblicken auf das Werk.
Die Veröffentlichung der Tagebücher hat das Bild von Thomas Mann als einem unnahbaren Repräsentanten des Humanismus nachhaltig verändert. Offen spricht Mann darin von homoerotischen Schwärmereien sowie von innerer Verstimmung und übt pointiert Kritik an Zeitgenossen – stets adressiert an einen imaginären zukünftigen Leser. Kesting macht deutlich, dass diese Texte keineswegs „ohne jeden literarischen Wert“ sind, wie Thomas Mann selbst behauptete.
Ein weiterer thematischer Schwerpunkt liegt auf dem Spannungsfeld zwischen Musik und Literatur – Kesting analysiert den dämonischen „Seelenzauber“ der Musik in Manns Werk. Auch Thomas Manns Verhältnis zu seinem Bruder Heinrich oder seinem Sohn Klaus, politische Haltungen sowie Reisen des Autors werden einbezogen.
Mit stilistischer Souveränität gelingt es Kesting, die bis heute wirkende Aura Thomas Manns einzufangen. Ein Buch, das gleichermaßen als fundierte Einführung wie als vertiefende Lektüre überzeugt – besonders für jene, die den Zusammenhang von Leben und Werk ausloten möchten. Eine Einladung, Thomas Mann mit geschärftem Blick (neu) zu entdecken.
„Steine in Hitlers Fenster“. Thomas Manns Radiosendungen Deutsche Hörer! 1940–1945 (Sonja Valentin)
Zwischen Oktober 1940 und November 1945 verfasste Thomas Mann im Auftrag der British Broadcasting Corporation (BBC) insgesamt 58 Rundfunkansprachen, die zumeist im monatlichen Rhythmus ausgestrahlt wurden. Hinzu kam im Oktober 1942 die Ansprache an die „Amerikaner deutscher Herkunft“, die im Rahmen eines Programms des United States Office of War Information (OWI) entstand. Die ersten vier Reden wurden aus den USA nach London telegrafiert und dort von einem deutschsprachigen Sprecher verlesen. Anschließend nahm Thomas Mann seine Beiträge in New York, später in Los Angeles selbst auf Schallplatte auf. Diese Aufnahmen wurden zunächst per Kurzwelle, ab dem Frühjahr 1942 dann per Flugzeug nach London übermittelt und von dort über Langwelle nach Kontinentaleuropa gesendet.
Es handelt sich bei den Texten um pointiert formulierte, fünf- bis achtminütige Ansprachen, in denen sich Thomas Mann mit der politischen Lage im nationalsozialistischen Deutschland auseinandersetzt, das Kriegsgeschehen kommentiert und eindringlich an seine Landsleute appelliert. Bereits 1942 prangert er den Massenmord an den Juden an und betont die historische Notwendigkeit der Zerschlagung des NS-Regimes. Dabei bringt der Autor auch die Frage nach der deutschen Schuld unmissverständlich zur Sprache.
Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht eine detaillierte Analyse dieser 59 Reden – mit einem besonderen Augenmerk auf Entstehungskontext, thematische Schwerpunkte, Intentionen und sprachlich-stilistische Ausgestaltung.
Anhand von Tagebucheinträgen und Briefen wird darüber hinaus die Frage nach den Diskrepanzen zwischen Thomas Manns Rolle als öffentlicher Intellektueller im Dienst der alliierten Propaganda und seinem privaten Selbstverständnis untersucht.
Ein zentraler Bestandteil der Untersuchung von Sonja Valentin ist ferner die enge Verknüpfung von Manns Rundfunkengagement mit seiner späteren Auseinandersetzung mit den Vertretern der sogenannten „inneren Emigration“ – ein Diskurs, der in der Forschung als die „große Kontroverse“ nach 1945 bekannt wurde.
Das abschließende Kapitel widmet sich der Rezeption der Deutsche Hörer!-Sendungen in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten.
Was gut ist und was böse. Thomas Mann als politischer Aktivist (Kai Sina)
Kai Sinas Essay widmet sich dem Ziel, Thomas Mann als politischen Aktivisten in seinem konkreten Handeln darzustellen – in all seiner Komplexität, Konsequenz und ebenso in den charakteristischen Widersprüchen seines Engagements.
Manns aktiver politischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus beginnt im Herbst 1930, als die NSDAP bei der Reichstagswahl mit 18,3 Prozent der Stimmen einen unerwarteten Erfolg erzielte. In der Folge warnte er in seiner Rede Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft eindringlich vor der heraufziehenden braunen Gefahr. Diese Ansprache hielt er im Beethovensaal zu Berlin – demselben Ort, an dem er 1922 mit seiner berühmten Bekenntnisrede zur Weimarer Republik öffentlich den Wandel vom Monarchisten zum republikanisch gesinnten Intellektuellen vollzogen hatte. Damals schloss er mit den Worten: „Es lebe die Republik!“
Zwei thematische Schwerpunkte stellt Sina in den Mittelpunkt: Thomas Manns Auseinandersetzung mit dem Judentum – insbesondere sein wohlwollendes Verhältnis zum Zionismus und seine entschiedene Ablehnung des Antisemitismus – und seine bislang wenig beachteten politischen Aktivitäten im amerikanischen Exil.
Thomas Mann unterstützte die Idee eines jüdischen Staates und betrachtete den Antisemitismus vieler Deutscher als zivilisatorisches Verhängnis. In den Vereinigten Staaten engagierte er sich mit besonderem Nachdruck: Neben seinen BBC-Ansprachen an die deutsche Bevölkerung zwischen 1940 und 1945 betont Sina vor allem Manns eindrucksvolle Lesereisen durch die USA – allein im Jahr vor Kriegseintritt absolvierte er 15 Auftritte in 14 Bundesstaaten. Dabei war sein Wirken kein Zufallsprodukt, sondern Ergebnis sorgfältiger Planung: Er setzte gezielt auf öffentliche Wirkung, arbeitete an der Theatralik seiner Vorträge und ließ sich unter anderem von Roosevelts medialer Inszenierung inspirieren.
Sina porträtiert Thomas Mann als klarsichtigen, engagierten Zeitbeobachter, der sich mutig für das moralisch Gebotene einsetzt – ohne dabei die Möglichkeit des Irrtums auszublenden. Damit ergänzt Sina das gängige Bild des vermeintlich zurückgezogen lebenden Erfolgsautors in Pacific Palisades, der von den Hügeln Kaliforniens auf den Pazifik blickte und seine Privilegien genoss – ein Bild, das nicht zuletzt durch Manns eigene Tagebuchaufzeichnungen genährt wurde.
Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik (Hans Rudolf Vaget)
Diese Studie widmet sich Thomas Manns leidenschaftlicher Faszination für Musik, die sich als Spiegel einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit der verhängnisvollen Selbstinszenierung der Nation begreifen lässt. Thomas Mann kannte den rauschhaften Taumel musikalischer Ekstase, wie ihn Wagner in seinen Werken exemplarisch hervorzurufen weiß, und erkannte – spät, aber umso eindringlicher – die Gefahren kollektiver Verschmelzungssehnsüchte, die sich in solchen Klangerlebnissen manifestieren können.
Vagets mentalitätsgeschichtliche Annäherung beleuchtet dieses Spannungsverhältnis eindrucksvoll. Grundlage der Analyse bilden zentrale Texte wie Musik in München, die Betrachtungen eines Unpolitischen, das Musikkapitel im Zauberberg und in Doktor Faustus, ergänzt durch Schilderungen biografischer und historischer Zäsuren wie des Münchner Wagner-Protests von 1933.
Ein einleitender Essay beleuchtet zunächst Thomas Manns Verhältnis zur Musik im Allgemeinen. Daran schließen sich zwei Kapitel zu den Genres an, die für ihn besondere Bedeutung gewannen: dem Kunstlied und der Oper. Es folgen vertiefende Analysen – zum einen zum Verhältnis der Buddenbrooks zu Wagners Ring des Nibelungen, zum anderen zur Rezeption französischer Musik im Faustus, durch die Manns Konzeption des „Deutschen“ musikalisch neu konturiert wird.
Thomas Mann selbst sah in seiner Fähigkeit zur Bewunderung eine schöpferische Triebkraft. Diese richtete sich nicht nur auf Wagner, sondern zeitweilig auch auf Zeitgenossen wie Richard Strauss und Hans Pfitzner. Beide Komponisten, die im zweiten Teil der Studie im Fokus stehen, konkurrierten um das Wagner-Erbe. Ihre ideologische Nähe zum Nationalsozialismus ließ Mann jedoch zunehmend auf Distanz gehen. Doktor Faustus zeugt auf subtile Weise von dieser Ambivalenz: Der Weg in die Katastrophe führt über Salome und Palestrina.
Aufschlussreich sind auch die kontrastierenden Beziehungen zu den Dirigenten Bruno Walter und Wilhelm Furtwängler sowie zu prägenden Wagnerianern wie Franz Wilhelm Beidler, Ernst Newman und Theodor W. Adorno. Walters Rolle als Thomas Manns Freund und musikalischer Berater – auch im Hinblick auf den Faustus-Roman – wird ebenso beleuchtet wie die in Los Angeles durch Adorno gelenkten Fokussierungen auf die Neue Musik.
Doktor Faustus (ver-)stimmen. Kompositionen zu Thomas Manns Roman (Anna Maria Olivari)
Thomas Manns Roman Doktor Faustus sowie dreizehn zwischen 1952 und 2011 entstandene Kompositionen bilden den Hauptgegenstand der vorliegenden intermedial ausgerichteten Studie.
Anhand eines vielfältigen Korpus – bestehend aus Opern, Monodramen, instrumentalen Werken sowie Kompositionen für Rundfunk und Fernsehen – rekonstruiert Anna Maria Olivari einerseits die kompositorische Rezeptionsgeschichte des Romans, andererseits analysiert sie Kontinuitäten und Differenzen zwischen literarischer Vorlage und deren intermedialen Übertragungen oder Reflexionen. Dabei fließen sowohl die jeweiligen Entstehungskontexte der Musikwerke als auch methodische Zugänge und Erweiterungen aus der Intermedialitätsforschung ein.
Die im Roman auf vielfältige Weise thematisierte Musik – etwa in Form von Klangchiffren, Musikerfiguren, fiktiven Werken oder musikästhetischen Diskursen über künstlerische Sterilität und Beethovens Spätwerk – bildet den Ausgangspunkt für die kompositorischen Annäherungen. Doktor Faustus wird so in das Medium der Musik oder in die Plurimedialität der Oper überführt, was bewusst die Grenzen des Literarischen überschreitet. Gleichzeitig verweisen die in der Studie analysierten musikalischen Adaptionen durch Evokation, Simulation oder partielle Reproduktion kontinuierlich auf den Roman zurück.
Ausgehend vom produktiven Spannungsfeld zwischen Literatur und Musik eröffnet die Studie Perspektiven auf den ästhetischen Mehrwert medialer Grenzüberschreitung – sowohl im Hinblick auf das literarische wie das musikalische Schaffen als auch auf deren wechselseitigen Austausch.
Die Welt der Buddenbrooks (Hans Wißkirchen (Hg.); mit Beiträgen von Britta Dittmann, Manfred Eickhölter und Hans Wißkirchen)
Seit der Veröffentlichung im Jahr 1901 wurden über vier Millionen Exemplare der Buddenbrooks verkauft. Der Roman wurde in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Wenngleich sich ein solcher weltweiter literarischer Erfolg nie vollständig erklären lässt, hat insbesondere Thomas Manns eindrucksvolle Schilderung seiner Heimatstadt Lübeck wohl maßgeblich zur anhaltenden Faszination beigetragen.
Hans Wißkirchen, Britta Dittmann und Manfred Eickhölter – ausgewiesene Thomas-Mann-Experten mit enger Verbindung zum Buddenbrookhaus – beleuchten in fünf Kapiteln verschiedene Aspekte von Werk, Autor und Stadt.
Das einleitende Kapitel zeigt eindrucksvoll, wie prägend die Auseinandersetzung mit familiären und gesellschaftlichen Wurzeln für Manns schriftstellerische Entwicklung war. Die folgenden Abschnitte entfalten und analysieren die dichte Verflechtung von Stadt und Werk und machen deutlich: Es ging dem Autor nicht um eine naturalistische Abbildung, sondern um die poetische Verdichtung eines Milieus.
Zahlreiche, teils erstmals veröffentlichte Bilddokumente aus dem Archiv der Lübecker Museen vermitteln eine anschauliche Vorstellung jenes historischen Stadtraums, vor dessen Hintergrund der Roman seine erzählerische Kraft entfaltet. Während sich Lübeck seit den 1850er-Jahren realhistorisch dem industriellen und politischen Wandel anschloss, blendet Thomas Mann diese Entwicklungen weitgehend aus. Sein Blick ist rückwärtsgewandt, seine Stadt ein Erinnerungsraum – stilisiert, verdichtet, literarisch überhöht. Er war Schriftsteller seiner Geburtsstadt, nicht Chronist ihrer Veränderungen.
Ergänzt wird der Band durch fundierte Beiträge zur Geschichte des Buddenbrookhauses, zur Rezeptionsgeschichte des Romans sowie zu Adaptionen für Bühne, Film und Comic.
Das Buch bietet fundiertes Hintergrundwissen zum Lübeck des 19. Jahrhunderts, zu historischen Persönlichkeiten, gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Rahmenbedingungen. Es eröffnet einen vertieften Zugang zu Buddenbrooks und liefert weiterführende Einblicke in dieses literarische Monument.
Thomas Mann, Der Tod in Venedig und die Grenzgänge des Erzählens. Interkulturelle Analysen (Alexander Honold, Arne Klawitter (Hg.))
Die Auseinandersetzung mit Thomas Manns Der Tod in Venedig im 21. Jahrhundert im Kontext interkultureller Literaturwissenschaft bildet den Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes, der aus einer Tagung von Germanisten verschiedener japanischer und schweizerischer Universitäten hervorgegangen ist. Die literarische Struktur und die narrativen Verfahren der vielfach analysierten Novelle werden aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet: Krankheit und Hygiene, soziale Diagnostik, kulturelle Semantisierung elementarer Räume, Interkulturalität und Intermedialität sowie Gender und Homoerotik bilden zentrale Analysefelder.
Die versammelten Beiträge eint der methodische Zugang, der sich durch eine ethnografisch inspirierte Außenperspektive auf Text und Topos auszeichnet. Die Novelle wie auch der sogenannte „Venedig-Komplex“ werden als multidimensionale räumlich-topologische Gebilde gelesen, denen sich die Interpretationen über kulturelle Distanz annähern, ohne dabei die ästhetische Nähe zum Text aufzugeben.
In ihrer Vielfalt eröffnen die Lektüren neue Deutungsräume und liefern zugleich wertvolle Impulse für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung in interkulturellen und interphilologischen Kontexten.
Thomas Mann – Heinrich Mann. Die ungleichen Brüder (Helmut Koopmann)
Für Thomas und Heinrich Mann war der jeweils andere Bruder ein lebenslanges Gegenüber – zugleich Antrieb, Herausforderung und Spiegel. In einem nie versiegenden Dialog ließ Thomas Mann seinen Bruder Heinrich in verschiedenen Figuren seiner Texte lebendig werden und gestaltete ihn in mannigfaltigen literarischen Masken. Auch Heinrich reagierte auf das Werk seines Bruders, ließ sich inspirieren, provozieren und zu eigenen Gegenentwürfen anregen. Ihre Beziehung war ambivalent, geprägt von Rivalität und schöpferischer Produktivität.
Während Thomas Mann an den Buddenbrooks arbeitete, entwarf Heinrich mit Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten ein Berliner Sittengemälde, das dem hanseatischen Bürgerideal seines Bruders ironisch widersprach. Im Schlaraffenland wiederum wurde für Thomas zum Impuls, den Romanentwurf Felix Krull zu entwickeln – eine Idee, die ihn fünfzig Jahre lang begleiten sollte. Auf die Buddenbrooks folgten aus Heinrichs Feder ferner Werke wie Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen und Die kleine Stadt. Auf Die Jagd nach Liebe, dem Roman, der zum tiefen Zerwürfnis der Brüder führte, antwortete Thomas Mann mit seiner Novelle Der Tod in Venedig – einer Erzählung von unerreichter Schönheit, die ein neues Verständnis von Liebe und Kunst beschwört.
Helmut Koopmann führt kenntnisreich durch Leben und Werk beider Autoren. Er erschließt Romane, Novellen, Essays, politische Schriften und autobiografische Zeugnisse als ein komplexes Geflecht von Liebeserklärungen, Kampfansagen und Versöhnungsangeboten. Er verfolgt Bezüge, Anspielungen, Zitate, Motivübernahmen, Variationen und Kontrafakturen, welche die kreative Auseinandersetzung der Brüder dokumentieren.
Das hier entfaltete Bild geht weit über eine Doppelbiografie hinaus: Es eröffnet das Panorama zweier paralleler, jedoch ungleich verlaufender Lebenswege – zweier Schriftsteller, deren Konflikte und Differenzen zu Brennpunkten der Literaturgeschichte wurden.
Ohne Partei zu ergreifen oder moralisch zu werten, ermöglicht Koopmann einen fundierten Einblick in zwei Werklandschaften, die sich gegenseitig erhellen und überhöhen.
Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen (Jan Assmann)
Der renommierte Ägyptologe Jan Assmann zählt Thomas Mann zu den „bedeutendsten Religions- und Mythostheoretikern seiner Zeit“. Besonders in seinem Romanzyklus Joseph und seine Brüder erschließt sich Mann über die Auseinandersetzung mit dem alten Ägypten eine kulturelle Tiefendimension der Zeit. Die Tetralogie kreist um die zentrale Frage, inwiefern die Vergangenheit die Gegenwart konstituiert.
Über einen Zeitraum von sechzehn Jahren arbeitete Thomas Mann an diesem monumentalen Werk. Der erste Band, Die Geschichten Jaakobs, erschien 1933 – im Jahr von Hitlers Machtübernahme. Im Exil vollendete Mann im Januar 1943 schließlich den vierten und letzten Band seines umfangreichsten Romanwerks.
Assmanns Studie versteht sich weniger als literaturwissenschaftliche Analyse denn als ägyptologisch fundierte Deutung. Im Zentrum steht das Konzept des „mythischen Selbst“, das sich als einer der ambitioniertesten Entwürfe historischer Anthropologie lesen lässt. Thomas Manns Roman thematisiert zentrale Aspekte „mythischer Zeit“, die auch in seinen Essays und Erzählungen virulent sind, insbesondere das spannungsvolle Verhältnis von Mythos und Monotheismus.
Die künstlerische Innovation Thomas Manns liegt in der Vermittlung zwischen archaisch-mythischem Zeitverständnis und der mit dem Judentum einsetzenden monotheistischen Geschichts- und Gesetzesmythologie. In Joseph verschränken sich Seele und Geist, zyklisches und lineares Zeitbewusstsein – er existiert zugleich in „orphischer“ und „mosaischer“ Zeit und wird damit zu einem symbolischen Gegenentwurf zum zeitgenössischen Nationalismus.
Assmann verortet Manns komplexe Gestaltung mythischer Vergangenheitsbindung innerhalb seiner Theorie des „kulturellen Gedächtnisses“ – eines Konzepts, das er gemeinsam mit Aleida Assmann entwickelte. Es bezeichnet die über Generationen hinweg tradierte Verdichtung von Texten, Bildern und Riten, die kollektives Zeit- und Geschichtsbewusstsein sowie Selbst- und Weltverhältnisse prägt.
Im Rahmen dieser theoretischen Perspektive analysiert Assmann das Ägyptenbild in den Josephsromanen und vergleicht Manns literarische Konstruktion sowohl mit der biblischen Überlieferung als auch mit der ägyptischen Urform. Aufschlussreich sind darüber hinaus die Querbezüge zu zeitgleichen Werken wie Arnold Schönbergs Opernfragment Moses und Aron oder Sigmund Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Schriften über die Religion.
Die Manns. Ein Jahrhundertroman (Regie: Heinrich Breloer; Drehbuch: Heinrich Breloer, Horst Königstein)
In seinem Fernseh-Dreiteiler Die Manns. Ein Jahrhundertroman entwirft Heinrich Breloer ein vielfältiges Porträt der bedeutenden Schriftstellerdynastie Mann. Im Zentrum der Handlung steht die Geschichte der Schriftstellerbrüder Heinrich und Thomas Mann sowie das weitverzweigte Geflecht ihrer Familien.
Auch Thomas Manns Nachkommen haben die deutsche Kulturgeschichte maßgeblich geprägt: Erika Mann, seine älteste Tochter, wurde – ebenso wie ihr Bruder Klaus, der mit Mephisto. Roman einer Karriere (1936) ein Schlüsselwerk der Exilliteratur schuf – zu einer der profiliertesten Stimmen des literarischen Exils. Golo Mann wiederum galt als einer der herausragenden Historiker der frühen Bundesrepublik.
Breloer gelingt es jedoch nicht nur, das Leben der prominenten Familienmitglieder eindrucksvoll darzustellen, sondern auch den oft übersehenen Persönlichkeiten wie Nelly Kröger, Katia Mann und insbesondere Elisabeth Mann Borgese eine Bühne zu geben.
Die fast 300-minütige Produktion überzeugt durch eine kunstvolle Collage aus Spielszenen, historischen Filmaufnahmen und Gesprächen. Grundlage dafür war Archivmaterial von über 140 Stunden. Besonders hervorzuheben sind die ausführlichen Interviews mit Elisabeth Mann Borgese, die sich darin erstmals öffentlich über ihre Familie äußert. Breloer selbst führte die Gespräche, begleitet von Reisen an originale Schauplätze der Familiengeschichte. Ergänzt wird das Material durch seltene, frühere Interviews mit Golo, Erika, Katia und Elisabeth Mann.
Das Ergebnis ist ein differenziertes und eindringliches Familienporträt, das Erfolge wie Brüche, Nähe wie Distanz, gesellschaftliche Bedeutung wie persönliche Verletzlichkeit umfasst und dabei ein halbes Jahrhundert deutscher Geschichte auf besondere Weise verdichtet – ein Doku-Drama von bleibender Relevanz.
Zauberberg 2. Roman (Heinz Strunk)
Jonas Heidbrink, Mitte dreißig, hat ein erfolgreiches Software-Start-up aufgebaut und gewinnbringend verkauft. Obwohl körperlich gesund und finanziell unabhängig, kämpft er dennoch mit Depressionen und Angststörungen. Auf der Suche nach Heilung zieht er sich in eine abgelegene psychosomatische Klinik nahe der polnischen Grenze zurück – einen Ort strenger Rhythmen, geprägt von festen Abläufen zwischen Mahlzeiten, Therapien und medizinischen Untersuchungen.
Strunks Roman orientiert sich in seiner Struktur an Thomas Manns Zauberberg, verlegt dessen geistige Topografie jedoch in die Gegenwart. Jonas leidet an sich selbst und an der Welt, an einem inneren Riss, der ihn von jeder Lebensfreude trennt. Anfangs begegnet er Klinik und Mitpatienten mit Fremdheit und Skepsis, doch allmählich entwickelt er Empathie und findet zu einer gewissen inneren Stabilität zurück.
Die Funktion der bei Mann zentralen Antipoden Settembrini und Naphta übernimmt bei Strunk die Figur des weltgewandten Bernhard Zeissner, eines wichtigen Begleiters Heidbrinks, der in endlosen Monologen die Welt erklärt.
Strunks Roman ist von intertextuellen Bezügen durchzogen: Anspielungen und Passagen aus Thomas Manns Zauberberg werden übernommen und im Anhang ausgewiesen. Doch auch unabhängig von dieser Vorlage entfaltet der Text seine Wirkung – als feinsinnige Studie seelischer Not und als Porträt einer Gesellschaft auf der Suche nach Orientierung.
Mit lakonischem Humor und bitterböser Komik erzählt Strunk in Zauberberg 2 eine stille, atmosphärische Geschichte: nachdenklich, lebendig und auf subtile Weise tröstlich.
Titelbild: Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, [reproduction number LC-USZ62-57783].
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