Romane des Jahres Zwischen Wahrheit und Fiktion – die Kunst der Autofiktion
Autofiktionale Texte erfreuen sich gegenwärtig großer Popularität in der zeitgenössischen Literatur. Autoren verweben biografische Elemente in ihre fiktionalen Werke und bewegen sich damit zunehmend zwischen den Gattungen Roman und Autobiografie. Der Begriff „Autofiktion“ wurde 1977 vom französischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Serge Doubrovsky (1928–2017) geprägt. In der Literaturwissenschaft skizziert er ein Schreibmodell, das scheinbar widersprüchliche Elemente vereint: die Namensidentität von Autor, Erzähler und Figur trifft hier auf die Gattungsbezeichnung Roman.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich ein deutliches Interesse an dieser Erzählform in der europäischen Literatur manifestiert. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist der sechsteilige Zyklus Min kamp des norwegischen Autors Karl Ove Knausgård. Zu den bekanntesten Vertretern zählen außerdem die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux sowie Édouard Louis, Didier Eribon, Camille Laurens und Amélie Nothomb. Auch Rachel Cusk, Jeanette Winterson und Elena Ferrante sowie im deutschsprachigen Raum Peter Kurzeck, Gerhard Henschel und Andreas Maier sind bedeutende Stimmen in diesem Genre.
Der faszinierende Reiz der Autofiktion liegt in ihrem oszillierenden Charakter zwischen Bekenntnis und Erfindung sowie im bewussten Spiel mit Wahrheit und Ästhetik. Dieses hybride Format bietet nicht nur den Lesern ein spannendes Erlebnis, sondern ermöglicht es den Autoren auch, ihre eigene Subjektivität sprachlich auszuleuchten und zu bestätigen.
Zunehmend gewinnt auch die mediale Dimension an Bedeutung: Das Erzählen aus persönlicher Perspektive erlaubt es den Autoren, sich im öffentlichen Raum als „Autor-Persona“ zu inszenieren. Oft steht dabei die Sichtbarmachung eigener Diskriminierungs- und Unterdrückungserfahrungen im Mittelpunkt. In den sozialen Medien nutzen diese Schriftsteller ihre Reichweite, um sich in aktuellen sozio-politischen Diskussionen zu positionieren und Gehör zu finden. Autofiktion umfasst eine Vielzahl von Themen – Identität und Selbstdarstellung, Erinnerung und Vergänglichkeit, Trauma und Bewältigung, Familiengeschichte und Beziehungen sowie gesellschaftliche und kulturelle Reflexionen.
Auch im literarischen Jahr 2024 sind einige bemerkenswerte autobiografische Romane erschienen, und unsere Fachreferenten haben eine Auswahl in einer Leseliste zusammengestellt.
Tabak und Schokolade (Martin R. Dean)
In seinem autobiografischen Roman zeichnet Martin R. Dean die facettenreiche Historie seiner Familie nach: Sie führt vom mütterlichen Aargau der 1950er-Jahre über seine väterlichen indischen Vorfahren auf Trinidad. Der Erzähler greift auf Fotografien aus seiner Kindheit zurück, um verblasste Erinnerungen an die Zeit in Trinidad lebendig werden zu lassen. Ein späterer Besuch auf der Insel bringt ihn in Kontakt mit einer weitläufigen und verzweigten Verwandtschaft. Seine genealogische Spurensuche führt ihn durch die britische Kolonialgeschichte und weiter zurück bis zu seinen westindischen Vorfahren, die einst als Kontraktarbeiter in die Karibik deportiert wurden.
Auch die Jugendjahre im Wynental – geprägt von den damaligen politischen Diskursen um Migration und „Gastarbeiter“ – sowie die Welt seiner aargauischen Großmutter werden eingehend beschrieben. Diese Großmutter, die einst selbst in jungen Jahren aus Rügen in die Schweiz emigrierte, verkörperte in der engen Gemeinschaft der Tabakarbeiter den permanenten Druck zur Assimilation und Anpassung.
Die Erfahrung rassistischer Diskriminierung, die der Erzähler als dunkelhäutiger Junge erlebte, wird mit den kolonialgeschichtlichen Zusammenhängen verknüpft. Diese werfen auch ein Licht auf die destruktive Gewalt seines leiblichen Vaters Ralph, die sich dadurch zum Teil erklären, jedoch keineswegs moralisch legitimieren lässt: „Es war die Gewalt eines Menschen, der, als Teil einer ihrer Traditionen beraubten Gesellschaft, keine moralische Verankerung hatte.“
Im Spannungsfeld zwischen Migration und Kolonisation verbindet Dean autobiografische Elemente mit soziologischen, ethnologischen und politischen Perspektiven. Mit einer sachlich-lakonischen Prosa, die auf Anklage verzichtet, gelingt es ihm, die Auseinandersetzung mit den tabuisierten, verdrängten Wurzeln als essenziellen Teil seiner Identitätssuche zu gestalten.
Die Welt zwischen den Nachrichten (Judith Kuckart)
In poetischen Momentaufnahmen und im dynamischen Rhythmus der Erinnerung erzählt die Tänzerin, Regisseurin und Autorin eine literarische Komposition. Geschickt verwebt sie ihre Biografie mit historischen Meilensteinen und fängt dabei den Geist ihrer Epoche ein.
Die Erzählung spielt vor dem Panorama prägender Ereignisse wie Geiselnahmen und Attentate der RAF, Ölkrise und Zerfall der DDR. Das Alltägliche und das Politische überlagern sich dabei auf faszinierende Weise: Eine gesuchte Terroristin ist das unscheinbare Nachbarsmädchen der Erzählerin und an den autofreien Sonntagen der 1970er-Jahre gleitet Judith mit einer anderen Freundin auf Rollschuhen über die leeren Autobahnen Westdeutschlands. Noch vor dem Mauerfall inszeniert sie in Paris ein Tanzstück nach einem Werk von Christa Wolf. Bald darauf zieht sie in den Majakowskiring in Pankow. Dort nutzt sie das ehemalige Wohnzimmer von Otto Grotewohl, mit Blick auf den Garten von Johannes R. Becher.
Eingebettet in die Erzählung sind Gespräche mit ihrer langjährigen Bekannten Eva K., die in der Kantine eines Opernhauses stattfinden. Diese Dialoge sind von eins bis zwölf durchnummeriert, rahmen die Erzählung in der Gegenwart und wirken wie Ankerpunkte, die die Reflexionen der Protagonistin über ihre Vergangenheit konturieren. Judiths eigene Geschichte als Tänzerin entfaltet sich parallel, während sie erkennt, dass sie neben der physischen Ausdruckskraft des Tanzes auch die Sprache der Worte benötigt: „Abends tippe ich mein erstes Gedicht ab. / Achtundachtzig Tasten am Klavier und / dreiunddreißig auf der Schreibmaschine / – auf Fingerspitzen / gehe in die Welt hinaus.“
Eine melancholische Rückschau durchzieht die Erzählung, die eine Familie skizziert, deren Mitglieder zwischen Vertrautheit und Fremdheit oszillieren. Zwischen „Erleben, Erinnern und Erfinden“ entwickeln sich die Suche nach Identität und die Reflexion über das Zusammenspiel von Zufall und Schicksal, das Judith Kuckart zu der Frau gemacht hat, die sie heute ist.
Heimwärts (Michael Lentz)
Der Roman Heimwärts basiert auf Michael Lentz‘ Kindheits- und Jugenderfahrungen in den 1960er- und 1970er-Jahren in Nordrhein-Westfalen. Ausgangspunkt der Erzählung ist eine geheimnisvolle Truhe mit verschiedensten Gegenständen, die mehr als nur Anlass für detailreiche Beschreibungen mit lebendigem Zeitkolorit liefern. Sie münden außerdem in Episoden zu einem düster-beklemmenden Elternhaus. Der Ich-Erzähler, in dem unschwer der Autor selbst zu erkennen ist, rekonstruiert seine Erinnerungen an eine gut situierte Familie, die vom wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegsjahrzehnte in Westdeutschland profitiert hat. Doch in dieser scheinbar intakten Welt fühlte sich der junge Erzähler isoliert und entfremdet – gefangen zwischen einer überforderten, depressiven Mutter und einem wahlweise abwesenden oder strafenden Vater. Um dem zu entfliehen, schuf er sich eine ganz eigene Welt.
Diese Erfahrungen spiegeln sich schließlich in einer weiteren Vater-Kind-Beziehung, indem die Perspektive des Erzählers mit der seines eigenen Kindes verschränkt ist. So tritt eine zweite Stimme auf, die sich gelegentlich einmischt und den Vater mit Fragen konfrontiert – Fragen, die dieser selbst seinen eigenen Eltern nie gestellt hat.
Durch die generationsübergreifende Verknüpfung der Figuren fließen die Zeitebenen ineinander und offenbaren tiefgehende Einblicke in die psychologischen und emotionalen Auswirkungen familiärer Beziehungen und die mit ihnen verbundenen gesellschaftlichen Normen. Hinterfragt wird die Rolle eines Vaters und die Erwartungen an eine Vorbildfunktion. Virtuos jongliert Lentz mit Sprache, Klängen und Wortverwandtschaften, um vor allem Unausgesprochenem Nachdruck zu verleihen. Das Leben soll kein weiteres Mal zu einem „Begehren des Zuspät“, „einem Nachholen“ werden.
Le rêve du jaguar (Miguel Bonnefoy)
Avec Le Rêve du jaguar, son dernier roman, l’écrivain franco-vénézuélien Miguel Bonnefoy nous plonge dans l’histoire tourmentée du Venezuela à travers une fresque romanesque sur plusieurs générations, inspirée de la destinée de ses grands-parents maternels.
Le narrateur, Cristobal, alter ego de l’auteur, raconte la vie des générations précédentes, à commencer par celle d’Antonio, un enfant abandonné sur les marches d’une église à Maracaibo. Recueilli par Teresa, une femme au caractère dur, Antonio grandit dans la pauvreté. Débrouillard et déterminé, il débute comme vendeur de cigarettes, puis débardeur, avant de devenir homme à tout faire dans un bordel, tout en apprenant seul à lire et à compter.
Porté par sa détermination et sa soif de savoir, il s’élève parmi les chirurgiens les plus réputés de son pays, aux côtés de son épouse Ana Maria, première femme médecin de la région. Ils donnent naissance à une fille, qu’ils baptisent Venezuela en hommage à leur terre, qui, elle, décide d’aller vivre à Paris sans pourtant jamais oublier ses racines sud-américaines.
Le Rêve du jaguar nous offre un portrait vivant du Venezuela, marqué par les luttes sociales et politiques. Un roman puissant et coloré qui mêle destins personnels et histoire collective sans ternir la magie de l’instant.
L’impossible retour (Amélie Nothomb)
En 2023, Amélie Nothomb retourne au Japon, son pays natal, accompagnée de son amie photographe. Ce voyage est empreint de nostalgie, car elle y a passé beaucoup d’époques de sa vie et ce pays inspire profondément son oeuvre. Or, durant son séjour, elle éprouve un sentiment troublant d’amnésie, au point de se sentir perdue dans les rues de Tokyo. La ville réveille en elle le souvenir de son père, décédé il y a quatre ans, provoquant un choc : ses souvenirs semblent soudain détachés de tout lieu. L’auteure se rend compte que malgré son amour pour ce pays, et l’influence qu’il exerce sur elle, elle n’a jamais réussi à s’y adapter. Ce constat est souligné par sa lecture d’À rebours de Huysmans, qui traverse son récit tel un fil rouge. Dans ce roman emblématique du dix-neuvième siècle, le protagoniste rêve longuement d’un voyage mais renonce à partir, préservant ainsi ses sensations qu’il a vécues en le préparant.
Amélie Nothomb, elle, n’a pas renoncé à son voyage et a ainsi vécu l’impossible retour.
Mon oncle d’Australie (François Garde)
François Garde découvre dans les notes de souvenirs de son père la mention de son oncle Marcel, un personnage sujet à controverse au sein de la famille. Un cousin suggérait même de l’effacer de l’arbre généalogique. Par les récits familiaux transmis à travers le temps, l’histoire se transforme en légende.
Intrigué, l’auteur décide d'enquêter sur cet oncle mystérieux en élaborant d’abord une hypothèse sur son destin, appuyant celle-ci sur les suppositions et les croyances de son père. C’est après cette première étape que débute réellement l’enquête de François Garde pour retrouver la trace de l’oncle Marcel en vue de le réinsérer à sa juste place dans l’arbre généalogique familial.
Ma mère est un fait divers (Maria Grazia Calandrone ; traduit de l’italien par Nathalie Bauer)
En 1965, Lucia et son amant fuient à Rome avec leur bébé de huit mois, cherchant à échapper au mari violent de Lucia et à une société oppressive. Mais la loi condamne Lucia pour adultère et abandon du foyer. Avant de se jeter dans le Tibre, ils abandonnent leur fille dans le parc de la Villa Borghèse, espérant qu’elle sera recueillie. Des décennies plus tard, leur fille, devenue adulte, retrace l’histoire tragique de ses parents. L’enfant orpheline, c’est Maria Grazia Calandrone.
Dans Ma mère est un fait divers, Maria Grazia Calandrone enquête sur son passé douloureux, révélant une Italie rigide et misogyne, où l’amour interdit pouvait coûter la vie. Elle reconstitue avec précision les derniers moments de sa mère, cherchant à comprendre ses gestes et à les accepter comme des actes d’amour. Un récit intime et poignant retraçant sa quête de vérité et d’identité.
The Wren, The Wren (Anne Enright)
Available at the library
In The Wren, The Wren, Enright tells the story of a three-generation family in Ireland, focusing on Nell, her mother Carmel, and Carmel’s late father, Phil, who was a poet. Phil’s legacy impacts the choices and emotions of both women: Nell, deeply influenced by her grandfather's romantic verses despite never meeting him, struggles with her own relationships and aspirations as an emerging poet. Carmel, in contrast, is grounded and acutely aware of the pain caused by her father’s selfishness, which shapes her complex relationship with her daughter. These two visions underline the tension between Phils artistic legacy and the emotional wounds he left behind.
This narrative structure allows Enright to weave in themes of intergenerational trauma, memory, and the weight of a family’s literary legacy—subjects she has explored in her own life, though she approaches them through fiction rather than direct memoir.
While The Wren, The Wren is not strictly autobiographical, it contains elements drawn from Enright’s own experiences, particularly her deep engagement with family dynamics, Irish identity, and the role of art in shaping personal and collective history. These themes are central to Enright’s literary style and provide a compelling framework for this rich, layered novel.
Wandering Stars (Tommy Orange)
Available at the library
In Wandering Stars, Tommy Orange crafts an ambitious and sweeping epic spanning over 150 years, tracing the enduring impact of generational trauma on a Native American family. The story revolves around Orvil Red Feather, a young boy growing up disconnected from his tribal heritage. With little guidance from his family, Orvil secretly delves into Native traditions through online research, attempting to construct an identity that feels true to him. His curiosity about his culture contrasts with his family members' hesitance to confront their history, creating a quiet yet poignant tension within the family.
The novel explores the devastating legacy of Native American displacement, massacre, and forced assimilation, showing how these historical wounds continue to reverberate through generations. By blending intimate family histories with a sweeping historical perspective, Tommy Orange weaves his cultural heritage into every layer of the story. Wandering Stars is a powerful meditation on memory, resilience, and identity, offering a deeply moving portrait of the strength and complexity of Native American communities.
Soldier Sailor (Claire Kilroy)
Available at the library
Soldier Sailor by Claire Kilroy is a strikingly introspective novel that delves into the complex, raw, and often overlooked realities of motherhood.
Narrated by the protagonist, a mother, the novel captures her isolated journey through early motherhood, vividly exploring it’s physical and emotional tolls. Her partner, though present, is portrayed as largely uninvolved, reflecting broader structural issues about gender roles and familial support. These dynamics amplify her feelings of invisibility and frustration, raising questions about how women’s labor in the domestic sphere is undervalued.
The narrative explores moments of profound, transformative love and deep connection between mother and child but especially Kilroy's depiction of motherhood’s darker nuances is both empathetic and profoundly moving, making this novel a memorable and thought-provoking work.
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