Pierre Pescatore und das lateinamerikanische Integrationsprojekt

Über die peruanische Verfassung im Bestand der BnL

Nicht-luxemburgischer Bestand

Eric Speicher

Jedes Jahr kann die Nationalbibliothek ihren Bestand mittels Schenkungen bereichern. Allein der luxemburgische Bestand kann auf diese Weise jährlich um mehrere hundert Dokumente erweitert werden. Manche Schenkungen erfordern eine intensive Auseinandersetzung. So der Fall bei einem nicht unwesentlichen Bestandteil der Privatbibliothek des langjährigen Richters am Europäischen Gerichtshof, Pierre Pescatore.

Neben einer fast vollständigen Sammlung seiner unzähligen Publikationen umfasste die Schenkung auch gesammelte Zeitungsbeiträge, thematische Dossiers, Fotografien, Korrespondenzen und Notizbücher – Zeugnisse der unermüdlichen Arbeitsamkeit eines Pioniers des Gemeinschaftsrechtes. Einige Dokumente offenbaren dabei unerwartete Verbindungen zu Pescatore und Luxemburg, so auch eine offizielle Ausgabe der Verfassung Perus.

Gemeinschaftsrecht als Integrationsmotor

Pierre Pescatore: kaum ein Name ist enger mit der Entwicklung des europäischen Rechts verbunden. 1919 in Luxemburg geboren, beginnt seine Karriere, nach einem Jurastudium in Tübingen und Löwen, im Außenministerium. Innerhalb der Luxemburger Delegation bei den Vereinten Nationen wird er sowohl mit den Bestrebungen nach internationaler Zusammenarbeit als auch mit den schwelenden Konflikten nationaler Eigeninteressen konfrontiert. 1956 ist er Teil der Arbeitsgruppe, die mit der juristischen Formulierung der Römischen Verträge beauftragt wird. Es gelingt ihm, die Interessen Luxemburgs in die Gründungsverträge der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) einfließen zu lassen. Als 1967 seine Nominierung als Richter am Europäischen Gerichtshof im Raum steht, verfügt er nicht nur über ausgiebige Erfahrung auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen, sondern gestaltet als Professor der Rechtswissenschaften seit Jahren das europäische Rechtsverständnis mit. Seine grundlegenden Ausführungen werden nicht nur in alle gängigen Sprachen Europas übersetzt, sondern auch international rezipiert. Pescatore argumentiert dabei, dass das europäische Projekt über die bloße wirtschaftliche Kooperation das Potenzial zu einem wahrhaften europäischen Föderalismus habe. Motor dieser Entwicklung solle das parallel entstehende Gemeinschaftsrecht sein, das er in Anerkennung seiner neuartigen Natur als „Integrationsrecht“ bezeichnet.

Als Richter am Gerichtshof ist er Teil ebenso wegweisender wie kontroverser Urteile, die der Gemeinschaft wiederholt Vorrang vor nationalen Interessen gibt. Unbeeindruckt von teils scharfer Kritik der nationalen Vertreter verteidigt Pescatore öffentlich seine Auslegung des Gerichtshofes als Instrument des gemeinschaftlichen Willens. Anlässlich des 15. Jubiläums des Gerichtshofes wird der pro-europäische Richter selbstbewusst konstatieren: „In ihrer Vielfalt und Tragweite stellt die Jurisdiktion des europäischen Gerichtshofs ein in der Welt einmaliges Experiment dar, das weit über die Grenzen der Gemeinschaft hinaus Beachtung findet“ (Luxemburger Wort, 09.01.1973). Seine Einschätzung hat Substanz. Die vom Gerichtshof behandelten Fragen setzen sich mit sensiblen Aspekten der nationalen Souveränität auseinander und müssen wirtschaftliche Asymmetrien berücksichtigen. Die europäischen Institutionen schaffen Erfahrungswerte und Referenzen für Aspekte, die im Rahmen von wirtschaftlicher und politischer Kooperation weltweit Relevanz haben. Durch diese Mischung aus unwiderlegbarer fachlicher Kompetenz und vehementer Öffentlichkeitsarbeit ist Pescatore gefragter Gast bei Konferenzen.

Bereits im Jahr seines Antritts am Europäischen Gerichtshof nimmt er an einer Veranstaltung zum EWG-Recht in Buenos Aires teil. Angesichts eines stockenden lateinamerikanischen Integrationsprozesses soll der Blick auf die europäische Initiative neue juristische Impulse geben. Die luxemburgische Presse berichtete nicht unbeeindruckt vom Beitrag des luxemburgischen Richters zur Aufklärung dieses „ebenso komplizierten wie noch unbekannten Stoffes“ (Luxemburger Wort, 08.04.1967). Pescatore synthetisiert, eigenständig auf Spanisch, die bisherige Entwicklung des europäischen Zusammenschlusses. Aus tiefster Überzeugung empfiehlt er die Struktur ihrer Institutionen und das Gemeinschaftsrecht als Modell für die lateinamerikanischen Bestrebungen. Es wird nicht der letzte Beitrag Pescatores zur lateinamerikanischen Integration bleiben.

Die Verfassung Perus: Hilferuf aus Lima

1969 schließen sich Bolivien, Chile, Ecuador, Kolumbien und Peru zum Andenpakt zusammen. Durch eine politische und rechtliche Annäherung soll den Mitgliedsländern zu wirtschaftlicher Prosperität und mehr Gewicht in der internationalen Politik verholfen werden. Doch als Pescatores Aufmerksamkeit im Sommer 1986 wieder auf den südamerikanischen Kontinent gelenkt wird, ist das ambitionierte Andenprojekt von langjährigen divergierenden nationalen Interessen und einer herausfordernden globalen Wirtschaftslage erodiert. Ein befreundeter Richter wendet sich aus Lima brieflich an Pescatore. Durch die Einrichtung des Andengerichtshofs in Ecuador motiviert, schildert er die Bemühungen, das Studium des Gemeinschaftsrechts auch in den Anden universitär zu verankern. Doch er zeigt sich auch besorgt über die Zukunft der lateinamerikanischen Integration. Zweifel am politischen Willen und eine integrationsfeindliche Polemik würden die öffentliche Diskussion beherrschen. Dabei hatte Peru 1980 die Förderung der „lateinamerikanischen Völkergemeinschaft“ sogar in der Verfassung verankert. Die Möglichkeit einer Verfassungsklage wird in den Raum gestellt. Pescatore, so der Verfasser, könne nicht gleichgültig gegenüber dem potenziellen Scheitern eines Projekts nach dem Vorbild der Europäischen Gemeinschaft in Lateinamerika sein. Demonstrativ wird dem Schreiben eine Ausgabe der Verfassung Perus und eine Auswahl relevanter Rechtsprechungen beigelegt.

Verfassung Perus. Offizielle Ausgabe des Justizministeriums.

Der Appell verfehlt sein Ziel nicht. Pescatore unternimmt persönliche Anstrengungen, um einen Korpus relevanter Fachliteratur zusammenzustellen. Einige Dokumente entnimmt er dem eigenen, spanischsprachigen, Bestand seiner Privatbibliothek. Für spezifischere Titel mobilisiert er sein umfangreiches Netzwerk und kontaktiert die entsprechenden Autoren, bittet sie, die entsprechenden Dokumente auf seine Kosten nach Peru zu verschicken. Damit liefert er dem Gleichgesinnten juristische Munition, um seinen Standpunkt untermauern zu können.

Dass die Entwicklungen in Lateinamerika Pescatore nicht gleichgültig waren, belegen auch die umfangreichen Dossiers, die er zu diesem Thema angelegt hat. Über Jahre lässt er sich Zeitungsartikel aus der lateinamerikanischen Presse zusenden. 1991 reist er mit Hilfe der Botschaft Uruguays nach Montevideo, um dort an einem Symposium teilzunehmen. Seine Einschätzung, dass das „einmalige Experiment“ der Europäischen Gemeinschaft weltweit Beachtung findet, wird erneut bestätigt. Pescatore dürfte 1996 mit gewisser Zufriedenheit verfolgt haben, wie der Andenpakt nach herausfordernden Krisenjahrzehnten den Integrationsprozess in Form der Andengemeinschaft wiederbelebt. In Verbindung mit Pescatores Korrespondenzen bezeugt die in der Nationalbibliothek aufbewahrte Ausgabe der Verfassung Perus somit symbolisch die internationale Vorbild- und Referenzfunktion des streitbaren luxemburgischen Richters.

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