Matrizen ungesehener Natur Alfred Steinmetzers künstlerische Vermessung der Natur

Ikonografische Sammlung

Stefanie Zutter

Vor Kurzem haben Forscher den Nachweis für ein neues Erdzeitalter, eine menschengemachte Welt, präsentiert. Der Mensch hat den Planeten kolossal verändert: abgeholzte Wälder, ausgerottete Arten und überall Plastik. Der Ausstoß von Treibhausgasen treibt die Temperaturen in die Höhe, das Grundwasser wird knapp, die Meeresspiegel steigen an, und die Erdachse verschiebt sich. Diese Phänomene sind nicht neu – trotzdem fällt es vielen Menschen schwer, sich die Gefahren des Klimawandels konkret vorzustellen.

Künstler besitzen die Gabe, Ungesehenes sichtbar zu machen und den Blick auf neue Dimensionen zu öffnen. Alfred Steinmetzer hat bereits in den sechziger Jahren – vor der Geburt der Umweltbewegung – in seinen Werken jene Verbindung zur Natur, zum Kosmos heraufbeschworen, die alle Menschen verbindet. 1965 erhält der Maler, Grafiker und spätere Leiter des Denkmalschutzes den Prix Grand Duc Adolphe, die höchste Auszeichnung für bildende Künstler in Luxemburg. Aus demselben Jahr stammt sein Kupferstich La Vague, eines der ersten druckgrafischen Blätter, das sich mit der Gewalt von Naturphänomenen befasst und das 1999 als Teil einer großzügigen Schenkung von über 70 Arbeiten in die Sammlung der Nationalbibliothek integriert wurde. 

Alfred Steinmetzers Kupferstich „La Vague“ aus dem Jahr 1965.

Steinmetzer setzt sich zwischen 1965 und 1972 intensiv mit der Kaltnadelradierung auseinander, einer arbeitsintensiven Tiefdrucktechnik, bei der mit einer Stahlnadel in die Metalloberfläche gekratzt wird. 1965 entstehen vier Landschaftsgrafiken zum Thema Wasser und Ozeane. Die kurzen Linien und Kreuzschraffuren in La Vague sind typisch für diese Bearbeitung der Matrize mit dem Stichel. Sie ermöglicht dem Künstler ein Repertoire an Formen und eine in sich lebendige visuelle Zeichnung, mit der sich die Zustandsänderungen des Wassers seismografisch erfassen lassen. Das Motiv der Wasserwelle in der Grafik wurde durch den japanischen Farbholzschnitt Die große Welle vor Kanagawa von Katsushika Hokusai so berühmt, dass sich seit dem 19. Jahrhundert jede Darstellung den Vergleich mit der Weltikone gefallen lassen muss. Während es bei Steinmetzer hinsichtlich Komposition, Landschaftselementen und dem Vorhandensein von Schiffsteilen durchaus Parallelen zu Hokusais Bild gibt, gelingt es dem Luxemburger durch eine geschickte Verschiebung der Bildperspektive nicht nur das Flüchtige, sondern auch das Bedrohliche der Wasserbewegung zu erfassen. Wie bei Hokusai rollt die Welle von links heran und erreicht ihren Höhepunkt in der Bildmitte, doch anstatt sich auf jenen Moment festzulegen, bevor der Wellenberg bricht, breiten sich die gewaltigen Wassermassen bei Steinmetzer über die gesamte Bildbreite und fast die gesamte Bildhöhe aus.

Neben diesem besonderen Raumbezug gibt es noch andere Indizien in Steinmetzers Bild, die auf eine besondere Beziehung zur Natur und insbesondere zu geowissenschaftlichem Wissen hindeuten. Ganz ohne naturalistische Elemente wie etwa die Farbgebung in Blautönen oder die klare Verortung in der Landschaft, fokussiert Steinmetzer seine Darstellung auf die physikalischen Eigenschaften des Wassers: die Geschwindigkeit, mit der es sich ausbreitet ist in dynamischen Linienverläufen erkennbar, kreis- und spiralförmige Liniengebilde deuten auf die trichterförmigen Vertiefungen lebensbedrohlicher Strudel hin. An mehreren Stellen erscheint deren Mittelpunkt wie ein dämonisches Wellenauge, in dessen bedrohlichem Blick die herannahende Katastrophe sichtbar wird.

Ende des Ersten Weltkriegs in Rosport geboren, studierte Steinmetzer zunächst Geodäsie, eine ganzheitliche Wissenschaft, die sich mit der Vermessung der Welt und der Abbildung der Erdoberfläche befasst. Wir wissen nicht, was den späteren Denkmalpfleger zur Geodäsie hinführte – den Wunsch zu verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält, eine Vorliebe für präzises Arbeiten oder gar ein Bewusstsein der Bedrohung des Menschen durch die Naturgewalten? Auch der Wechsel von den Naturwissenschaften zum Kunststudium in München ist noch nicht geklärt. Die genaue Betrachtung seiner Druckgrafik jedoch, die im Übrigen im In- und Ausland großen Anklang gefunden hat, eröffnet mentale Räume, in denen die aktuelle Bedrohung des Menschen durch Naturphänomene und den Klimawandel bereits spürbar wird.

Erschienen in Die Warte, 12. Oktober 2023.

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