Louis Joseph Zelle im Dienste der Luxemburger Künste Über das niederländische Wertheim-Album und seine luxemburgischen Beiträger

Handschriftensammlung

Jeff Schmitz

Das Wertheim-Album erinnert an Jacob Leon Wertheim (1839-1882), den Amsterdamer Bankier, Dichter und Übersetzer, der sich in seinem kurzen Leben sehr für Literatur und Theater im Allgemeinen und für die Amsterdamer Tooneelschool [Theaterschule] und ihre Lehrlinge im Besonderen engagierte. Initiiert und zusammengestellt wurde das Album von W.D.Th van Werkhoven, einem Mitglied der kunstliebenden Vereinigung Schlaraffia, der mit dem Erlös aus der geplanten Verlosung des Albums die Theaterschule unterstützen wollte.

Das rund 500 Seiten starke Album versammelte Beiträge in Schrift und Bild, die von sowohl niederländischen als auch ausländischen Vertretern aus Kunst, Wissenschaft und Literatur stammten. Bevor das verschollene Album verlost wurde, wurde es in einer Ausstellung gezeigt und aus dem überlieferten Begleitkatalog erfährt man die Namen der vielen Beiträger, unter ihnen auch drei Luxemburger: Michel Lentz, Jean Neumann und Louis Joseph Zelle. Über den letztgenannten kam, wie man aus seinen in der Luxemburger Nationalbibliothek aufbewahrten Memoiren erfährt, der Kontakt zu Van Werkhoven zustande.

Louis Joseph Zelle

Doch wer war der gebürtige Luxemburger Louis Joseph Zelle? Zelle diente 23 Jahre ununterbrochen in der niederländischen Kolonialarmee, nahm im heutigen Indonesien an Feldzügen und Expeditionen teil und war einige Jahre Postenkommandant. In der Militärhierarchie schaffte er es – nachdem er die niederländische Staatsbürgerschaft angenommen hatte – bis in die Offiziersränge. Der multilinguale Autodidakt war überaus gebildet und belesen. Neben dem bedeutendsten niederländischen Schriftsteller Multatuli (eigtl. Edward Douwes Dekker) zitiert er etwa wiederholt Heine, Goethe, Balzac oder Voltaire. Der selbstbewusste Zelle, ein reflexiv-kritischer Geist, korrespondierte zeitlebens ausgiebig mit befreundeten Militärs und nahm dabei selten ein Blatt vor den Mund – Briefwechsel, die über die eigentlichen Dienstzeiten hinausreichten und die Zelle teils noch nach seiner Rückkehr aus den Tropen aufrechterhielt. Den Frauen und Töchtern der Freunde schrieb er ebenfalls und tauschte sich mit ihnen beispielsweise über Kunst und die Emanzipation der Frau aus.

Zurück in Luxemburg begann Zelle mit der Niederschrift seiner dreibändigen auf Niederländisch verfassten Autobiographie Myn wedervaren, die ihn rund fünfeinhalb Jahre beschäftigen sollte. Daneben schrieb der umtriebige Veteran Artikel für luxemburgische und niederländische Zeitungen, besuchte regelmäßig Theatervorstellungen und Konzerte und war Gründungsmitglied des Cercle Grand-Ducal d’escrime et de gymnastique, dem er auch eine Zeitlang vorstand. Zudem unterhielt er eine Reihe von Kontakten in die Niederlande.

Scharfsinniger Kritiker

So kam es, dass der erwähnte Van Werkhoven Zelle in einem Schreiben vom 9. Dezember 1884 um ein Autograf bat und bei ihm zugleich um weitere prominente luxemburgische Beiträger für das Wertheim-Album warb – ein Anliegen, dem Zelle bereitwillig nachkommt. Von sich selbst übersendet er einen an Goethe angelehnten Gedankensplitter und von Michel Lentz, den er persönlich kennt, ein Gedicht. Paul Eyschen, bei dem er gelegentlich zusammen mit Lentz diniert, und Félix de Blochausen, an dem er kein gutes Haar lässt, hat Zelle ebenfalls um ein Autograf gebeten, aber ohne Erfolg, wie sein Brief an Van Werkhoven vom 15. Dezember 1884 verrät:

»[V]an de Blochausen en Eyschen heb ik nog niets ontvangen, wanneer er eene decoratie voor gegeven wierd zouden zy den nek breeken om de eersten te zyn, maar nu gaat het alleen voor de kunst, dus … is er geen haast by. Van prof. J. Neumann de schryver, om niet dichter te zeggen, der cantate van 5 Nov. jl. zal ik ook een blad met een toepasselyk stuk krygen […].«

[Von de Blochausen und Eyschen habe ich noch nichts erhalten, wenn es eine Auszeichnung dafür gäbe, würden sie sich den Hals brechen, um die Ersten zu sein, doch nun geht es allein um die Kunst, also … ist keine Eile angesagt. Von Prof. J. Neumann, dem ›Schreiber‹ (um nicht ›Dichter‹ zu sagen) der Kantate vom vergangenen 5. November, soll ich auch noch ein Blatt mit einem passenden Beitrag bekommen […].]  

Die kurze Passage zeigt: Zelle urteilte streng über seine Zeitgenossen – und das gilt auch für Michel Lentz, den er von seiner Kritik nicht aussparte. So bezeichnet er ihn in dem eben zitierten Brief als »een goede, brave kerel« [einen guten, rechtschaffenen Kerl], der es wie kein anderer verstanden habe, »die snaar juist aan te roeren, die het meest overeenkomt met het gemoedsleven van de Luxemburgers« [gerade die Saite anzuschlagen, die am meisten mit dem Seelenleben der Luxemburger übereinstimme], weshalb ihm seine Popularität gegönnt sei. Allerdings, so Zelle, fehle es Lentz an Bescheidenheit und man sehe, dass der eitle Mensch »op een byzonder goeden voet met zyn eigen staat« [auf besonders gutem Fuße mit sich selbst stehe], was seine Mitmenschen ihm jedoch nicht übelnähmen.

Michel Lentz‘ Gelegenheitsgedicht

Weitere Bemühungen um Autografen aus Luxemburg verliefen im Sande, wie man aus Zelles Brief an Van Werkhoven vom 31. Dezember 1884 ersehen kann. So blieb es schließlich bei den Beiträgen von Zelle, Neumann und Lentz. Die Kenntnis darüber, was genau die drei zum Album beigesteuert haben, verdanken wir einem Bloemlezing uit het Wertheim-Album betitelten Beiblatt des Amsterdamsche Courant vom 18. Mai 1885. In dieser vierseitigen ›Blütenlese‹ findet man von Zelle den folgenden Spruch: »Das, was die Geschichte uns am besten geben kann, ist die Begeisterung, die sie in unsern Herzen erhebt.« Und Zelle ergänzt, falls das im Allgemeinen zutreffe, so sei es für jeden Niederländer doppelt wahr. Jean Neumann steuerte französische Verse bei, in denen er dem Theaterschauspieler und seiner Kunst eine kultivierende Aufgabe zuschreibt, da er die Poesie zum Leben erweckt und ihr Ausdruck verleiht. Und von Michel Lentz enthält die ›Blütenlese‹ – an exponierter Stelle auf der ersten Seite oben links – das dreistrophige Gedicht Eng Drepschen, dem die von Zelle angefertigte Übersetzung Une petite goutte beigegeben ist. Lentz nahm das Gedicht mit dem erklärenden Untertitel En Autograf an den Album fum Ferein fir dramatesch Konscht zu Amsterdam in seine 1887 veröffentlichte Lyriksammlung Hiérschtblumen auf, über die Zelle sich – wie schon über den Menschen Michel Lentz – kritisch äußerte. In den beiden ersten Strophen von Eng Drepschen thematisiert Lentz mittels des Tröpfchen-Bildes, wie aus vielen Einzelteilen ein großes Ganzes entsteht, bevor er in der letzten Strophe analog sein Gedicht, diese »klinzég Drepschen Tente« (V. 12), als einen winzigen Beitrag zu einem größeren die Theaterkunst ehrenden Sammelalbum sieht.

Als Zelle im Frühjahr 1885 den Catalogus van het Wertheim-Album samt Beilage des Amsterdamsche Courant in Händen hielt, zeigte er sich zufrieden mit dem Resultat, schrieb aber am 3. Juni 1885 zugleich an Van Werkhoven, dass Lentz daran verzweifelt sei, dass die vielen Setzfehler sowohl im Original seines Gedichts als auch in der Übersetzung es völlig unverständlich gemacht hätten – ein Umstand, den Zelle bei Lentz’ »lux. duitsch« [Luxemburger Deutsch] noch zu verzeihen geneigt war, den er jedoch in Bezug auf seine Übersetzung nicht gelten ließ: Denn »daar moet toch wel een corrector zyn by de uitgevers der Amsterdamsche Courant die de fransche taal kent.« [Denn »es muss doch wohl bei den Herausgebern des Amsterdamsche Courant einen Korrektor geben, der die französische Sprache beherrscht.«]

▪ Dieser Artikel erschien erstmals in Die Warte am 29. Juni 2023.

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