Die Enzyklopädie von Tlön Eine Enzyklopädie des Imaginären – unbekannt und unvollständig

Ikonografische Sammlung

Michèle Wallenborn

Ein ganz herausragendes, außergewöhnliches, aber auf den ersten Blick eher rätselhaftes Künstlerbuch in der Sammlung von Künstlerbüchern der Nationalbibliothek ist das mehrbändige Werk Die Enzyklopädie von Tlön. Es ist ein Objekt künstlerischer Buchgestaltung, das die Idee des Buches als Gegenstand gestalterischer, aber auch wissenschaftlicher Reflexion thematisiert.

Enzyklopädien sind von vornherein keine Bücher zum Lesen. Hingegen war der im 19. Jahrhundert entstandene Typus des Konversationslexikons, des Universallexikons wie wir es heute noch kennen, durchaus Antwortgeber in allen Lebenslagen. Mit der Bezeichnung Enzyklopädie assoziieren wir zunächst das gigantische Unternehmen von Diderot und d’Alembert im 18. Jahrhundert, das aus einer umfassenden Darstellung aller Wissenschaften und Künste in systematischer oder alphabetischer Ordnung bestand. Es ging um die Dokumentierung der erreichten Kulturtätigkeit der Menschheit in meisterhaften graphischen Illustrationen.

Inspiriert durch die Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius des Dichters Jorge Luis Borges haben Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki eine Enzyklopädie von Tlön zusammengestellt, die in 50 Bänden wissenschaftliche Darstellungsweisen imitiert,  imaginäre Inhalte enzyklopädisch präsentiert und eine Unmenge an Themen und Konzepten an Hand von Konnotationen, Zitaten, Symbolen und Bildern inszeniert. Jeder Band widmet sich einem Stichwort, subjektiv ausgewählt, persönlich erläutert, vorrangig aus der Perspektive künstlerischen Denkens, allerdings nach einem Raster naturwissenschaftlicher Ordnungen. Neben den Elementen und anderen Bausteinen, aus denen sich die Welt zusammensetzt (Erde, Feuer, Wasser, Luft, Flora, Fauna etc..), werden Phänomene wie Zeit, Licht, Wolken, Schatten, Nacht und Mond erörtert. Ebenso werden Farben, Worte aus dem Reich der Mythologie, Kunstgeschichte und Buchwissenschaft thematisiert.

„Ein strenger systematischer Plan liegt dem Konzept der Reihe zugrunde, sich selbst versinnbildlichend in der Strenge des formalen Äußeren. Individuelle, d. h. subjektive Themenwahl und Form der Durchführung im jeweiligen Einzelband gehören dagegen der Welt der freien Kunst an. Es entsteht gewissermaßen eine Sub-Systematik, die darin liegt, dass in fast wissenschaftlicher Weise die Möglichkeiten grafischer, typografischer und sonstiger Buchgestaltung im Sinne der Künstlerbuchtradition durchgespielt werden“, beschreibt Eva Hanebutt-Benz das Projekt. So entstand eine Sammlung gestalterischer Möglichkeiten, die in solcher konzeptuellen und handwerklichen Perfektion ihres gleichen sucht. Die Begriffsfindung, die Einteilung der Publikationen über 10 Jahre hinweg, wobei fünf Bände pro Jahr erschienen, mit immer neuen Gestaltungsmitteln, die systematische Bezugnahme auf Borges’ Erzählung münden in ein persönliches, aber zugleich in ein für unsere Zeit exemplarisches Konvolut an Termini.

Es war eine große Herausforderung für die Künstler Peter Malutzki und Ines von Ketelhodt, sich 10 Jahre lang gemeinsam, quasi ausschließlich auf dieses Projekt konzentriert, zehn Jahre lang an einem Format gewirkt zu haben. Jeder arbeitete jeweils an einem eigenen Band, der immer nur einem Stichwort (und einem Thema) gewidmet war und einen Buchstaben illustrierte. „Wir sehen das Projekt vernetzt mit einer Vielzahl anderer Bücher (die Bibliographie am Ende des Buches benennt einige) und sind glücklich, dass es sich durch die Aufnahme in öffentliche Sammlungen auch in der räumlichen Nähe zu einer enormen Anzahl anderer Bücher befindet“, wie die Künstler selbst ausführen.

Tlön bei Borges

Tlön, Uqbar, Orbis Tertius ist eine Erzählung aus dem Band Ficciones (1944) von Jorge Luis Borges, und wird oft auch als Allegorie auf den philosophischen Idealismus betrachtet. Die Fiktion wird in diesen Schilderungen realer als die Wirklichkeit. Die Beschreibung des erfundenen Planeten Tlön mitsamt seiner Geschichte, Sprachen und Geographie legt sich förmlich über die irdische Realität.

Die Enzyklopädie von Tlön, wie sie Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki imaginiert und bildnerisch umgesetzt haben, ist eine persönliche Rekonstruktion, eine Parabel über Macht und Wirkung von Literatur wie bei Borges.

An Hand einer unzähligen Reihe an Textpassagen der Weltliteratur entsteht ein Mikrokosmos an Bedeutsamem aus allen Kulturen, Epochen und Weltanschauungen.  Das Projekt ist ein Versuch „auf dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“, wie es im Faust heißt. Neben den mit Borges verknüpften Themen fasziniert die Enzyklopädie von Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki mit ihren Stilmitteln. Bildnerisch ist ihnen ein wahrliches Œuvre gelungen, die Quintessenz ihrer Arbeit als Künstler, aber auch als Graphiker und Gestalter im Printbereich.

Rezeption und Verbreitung

1997 wurden die ersten Bände der Enzyklopädie auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt. Ab 1998 wurde das work in progress an allen wichtigen Schauplätzen für Buchkunst in Europa und Übersee gezeigt: MAK Frankfurt, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Gutenberg Museum Mainz, Klingspor Museum Offenbach, Museum Meermanno Den Haag, Victoria&Albert Museum London, Editionale Köln. Auch gab es mehrere Tlön-on-tour-Reisen in die USA (Codex Foundation in Berkeley (Ca), Yale University usw.). Angekauft wurde das Werk von ebenso bedeutenden Bibliotheken: Bibliothèque nationale de France, Deutsche Nationalbibliothek, Herzog AugustBibliothek in Wolfenbüttel, Harvard University, Victoria&Albert Museum London u.a. Im Dezember zeigt die Nationalbibliothek die Sammlung von 50 Bänden in ihren Vitrinen in der Kunstabteilung im zweiten Stockwerk des Lesesaals.

Erschienen in Die Warte, 24. November 2022, S. 7.

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