Tagebuch eines vergessenen Komponisten Einblicke in das Leben von René Hemmer
Als vor einem Jahr der Komponist René Hemmer fast 100-jährig starb, wurde dem CEDOM, der Musikabteilung der Nationalbibliothek, sein Nachlass übergeben. Der Inhalt: 90 Werke, seine Korrespondenz und ein Tagebuch. In diesem auf Deutsch verfassten Typoskript blickt er 1944 auf seine Jugend zurück und schreibt anschließend bis 2008 über sein Leben als Familienvater und Komponist. Somit bietet diese Archivalie einen wertvollen Einblick in die Herausforderungen, mit denen ein Komponist im 20. Jahrhundert konfrontiert ist.
Geboren wird Hemmer am 27. Dezember 1919 in Rodange. Sein Vater war Walzendreher in Differdingen. Obgleich nicht aus einem musikalischen Elternhaus stammend, lernt er Trompete und geht 15-jährig ans hauptstädtische Konservatorium. Er wünscht sich nichts sehnlicher als Trompeter in der Militärmusik zu sein. Ein Wunsch, der ihm fünf Jahre später erfüllt wird, wenige Tage, bevor am 10. Mai 1940 die Nationalsozialisten Luxemburg besetzen.
Durch Differdingen verläuft die Front. Hemmer begegnet auf der Straße algerischen Soldaten auf Pferden, während in der Luft deutsche Jagdflugzeuge fliegen. Den Zweiten Weltkrieg übersteht er zwar unbeschadet in der Position als Militärmusiker, er wird jedoch am Abend des 3. Juli 1944 während einer Aufführung des Rosenkavaliers in Trier von der Gestapo verhaftet. Durch seine dienstlichen Fahrten über die Grenze war es ihm gelungen, Details über die Beschaffenheit deutscher Truppen in Erfahrung zu bringen. In der Villa Pauly wird er verhört, entgeht aber mangels Beweisen der Deportation ins KZ. Hemmer kommt ins Grundgefängnis, wo damals Widerstandskämpfer und Deserteure eingesperrt waren. Als am 1. September 1944 der Krieg in Luxemburg vermeintlich zu Ende ist, werden 150 Häftlinge entlassen. Hemmer steht nicht auf der Liste. Als sich am Abend desselben Tages abzeichnet, dass die Besatzer doch wieder zurückkehren, öffnet ihm ein geistesgegenwärtiger Wärter noch schnell die Zellentür.
Hemmers erste Komposition entsteht 1948. In seinem Tagebuch notiert er darüber: „Habe heute den Marsch mit Tusche auf Kalkpapier kopiert. Mit einem Beleuchtungsverfahren wird er nun vervielfältigt werden und in den Verkauf kommen.“ Er übernimmt die Leitung der Harmonie Rodange, wird Lehrer an der Musikschule Petingen, und in der Militärmusik steigt er zum 1. Bugle auf. In der Folge entstehen 21 Märsche, 17 Orchesterwerke und 17 Werke für Kammermusik. Er schreibt keine gefällige Musik. Seine Musik fordert die Zuhörer und Interpreten heraus. Der Zeit entsprechend ist sie atonal, eine Zeitlang schreibt er nur serielle Musik.
Hemmers größte Erfolge liegen in den 1960er und 1970er Jahren. Fast alle seiner Kompositionen wurden aufgeführt und die großen Orchesterwerke vom RTL-Sinfonieorchester aufgenommen und im Radio gesendet. Er gründet das Orchestre de chambre, das auf zeitgenössische Musik spezialisiert ist. Aber mit der Zeit wird es stiller um ihn. In einem offenen Brief an RTL fragt er 1975: «Est-ce que vous…jugez ces œuvres trop médiocres?». Auch die Suche nach einem Verlag für seine Werke bleibt ohne Erfolg. Die Kommunikation darüber ist ohne E-Mail eine langwierige Sache und Telefonate sind teuer. So klagt er in einem Brief vom 1. Oktober 1982 an das Konservatorium in Lahti (Finnland): „Nachdem zwei von mir an Sie gerichtete Briefe, aus welchen Gründen auch immer, unbeantwortet blieben, versuche ich es nun zum Drittenmal. Zwar bitte ich Sie, mir die vier Partituren, die ich Ihnen vor einem Jahr geschickt habe, zurückzuschicken, da es sich um die Originale meiner Kompositionen handelt.“ Von der Edition Schott kommt die Antwort: „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich Ausgaben zeitgenössischer Musik für Klavier nicht lohnen. Es sind immer nur ganz wenige Interpreten, die sich solchen Stücken gewachsen zeigen und diese benutzen dann das Manuskript.“ Für den Laienmusiker zu anspruchsvoll, urteilt die Edition Helbling, deswegen erlaube sie sich, „Ihnen das Stimmenmaterial zurückzuschicken. Wir haben es von mehreren Kapellen durchspielen lassen und von allen das Urteil bekommen, dass dieses Stück zu schwer sei.“
René Hemmer war bis zuletzt bei guter Gesundheit. Er starb am 9. September 2019 in seinem Haus in Cessange.
Erschienen in Die Warte, 22. Oktober 2022, S. 4.
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