Komponist für die Oberschicht Luxemburgs? Zum 125. Todestag von Jean-Antoine Zinnen

Musikbestand des Cedom

Marlène Duhr

Am 16. Mai jährt sich Jean-Antoine Zinnens Tod zum 125. Mal. Dem Komponisten der Luxemburger Nationalhymne Ons Heemecht wurden bereits zahlreiche Beiträge in Gedenkschriften, Vereinsbroschüren oder Zeitungsartikeln gewidmet. Alle verbreiten eine wohlgeformte Version der Biographie Zinnens, die einem Narrativ folgt, das seit seinem Tod im Umlauf ist und ein verzerrtes Bild präsentiert:

Ein talentierter junger Mann, der aus Neuerburg (D) stammt, lässt sich 1849 zum Luxemburger naturalisieren und macht zunächst bei der Militärmusik Karriere. Aufgrund seines Talentes gelingt ihm 1852 ein Wechsel an die städtische Musikschule, wo er zum Professor ernannt wird. 1856 wird er Direktor der Musikschule und gründet 1863 den Allgemeinen Luxemburger Musikverein, den Vorläufer der heutigen UGDA. Es ist beim ersten Festival des ALMs 1864 in Ettelbrück vor Ort, wo das von ihm komponierte Lied Ons Heemecht uraufgeführt und später zur Nationalhymne wird (vgl. Françoise Molitor, D’Gebuertsstonn vun eiser Nationalhymn). Nach bösartigen Intrigen wird die städtische Musikschule 1882 geschlossen, und Zinnen zieht verbittert nach Paris, wo er schließlich 1898 stirbt. In Anerkennung seiner Dienste am Land Luxemburg kommt es zur Rückführung der sterblichen Überreste aus Frankreich im Jahr 1900, und dem Komponisten wird zwei Jahre später ein Denkmal gesetzt.

Postkarte von J. A. Zinnen. Quelle: BnL, Postkartensammlung. Foto: Marcel Strainchamps.

Die Nationalbibliothek sammelt ihrem Luxemburgensia-Verständnis gemäß alle Publikationen, die Zinnen betreffen, auch solche, die dem skizzierten Narrativ Risse verleihen könnten. In der Chronik des Luxemburger Musikverbandes heißt es z. B.: „Anfang der 50er Jahre machte Johann Anton Zinnen der Regierung den Vorschlag, einen Musik- und Gesangwettbewerb zu organisieren.“ (vgl. Chronik Bd. 1, S. 40) Nirgendwo ließ sich diese Information nachprüfen. Davon ausgehend, dass sie stimmt, stellt sich jedoch die Frage, wie ein junger Kapellmeister aus dem Ausland, der aus einer nicht sonderlich vermögenden Familie stammt, bis in höchste Regierungskreise vernetzt sein konnte?

Eine mögliche Erklärung wäre Zinnens Aufnahme in die vom Militär geprägte Freimaurerloge in Echternach im Jahr 1851, wo sich Regierungsvertreter, hohe Beamte, Großindustrielle, Landbesitzer, reiche Kaufleute u. a. trafen. Dort hatte Zinnen Kontakt zu seinem Lehrer Ferdinand Hoebich, Kapellmeister des 1. Jägerbataillons, und zu Mathieu-Lambert Schrobildgen, Großmeister der Loge in Luxemburg-Stadt, der mit der Organisation des ersten Gesangwettbewerbes im Großherzogtum 1852 betraut wurde. Auch der Tabakhändler Augustin Dietz gehört zu den Logenbrüdern. Er ist zugleich Vater von Madeleine Dietz, die Zinnen im Jahr 1854 heiratet. Der junge Musikprofessor macht eine gute Partie: Mit einem Einkommen von 1.370 Francs im Jahr gehört er zwar zu der reicheren Bevölkerungsschicht, doch sein Schwiegervater ist mit einem jährlichen Einkommen von ca. 4.500 Francs um ein Vielfaches reicher. 1880 hat Zinnen ein jährliches Einkommen von 3.801 Francs und beschäftigt eine Dienstmagd – ein wichtiges Statussymbol der besseren Gesellschaft (vgl. Josiane Weber, Familien der Oberschicht in Luxemburg, S. 545). Zinnens sozialer Aufstieg erlaubt ihm Zugang zu höchsten Kreisen und bringt Beziehungen mit sich.

Auch in den Sammlungen des Cedom (Centre d’études et de documentation musicale) der BnL befindet sich Archivgold. Obwohl es von Zinnen keinen in sich geschlossenen Nachlass gibt – was die Forschung etwas erschwert – sind doch Dokumente diverser Herkunft erhalten. Die Quellen aus den Beständen der Philharmonie de Larochette ergänzen das Wissen um Zinnens Verlag Le Diapason. Dort publiziert er in den 1870ern vor allem seine eigenen Stücke für Blasorchester. Neben bereits bekannten Stücken wie Zinnens Fantaisie de concours sur des motifs italiens (August/September 1872) findet sich dort auch das Stimmenmaterial zu Le Président (ca. April 1873) oder La Fête des roses (ca. Mai 1872).

Die erste Seite der Partitur Ce que raconte grand-mère, BnL, Cedom, LMS 1/3. Oberhalb des Orchestersatzes sind zwei Stempel auszumachen. Der eine informiert über Zinnens damalige Adresse (1, Rue de la Coutellerie), der andere über den Eingang der Partitur bei der französischen Société des Auteurs am 21. Dezember 1898.

Ein ebenfalls vernachlässigter Lebensabschnitt Zinnens ist sein Aufenthalt in Paris während der letzten Lebensjahre. Die als Manuskript erhaltenen Partituren zu Ce que raconte grand-mère lassen vermuten, dass sich Zinnen in dieser Zeit vermehrt der Komposition von salonfähiger Musik zuwendet. Das Stück ist in Fassungen für Symphonieorchester, für Klavier oder Streichquartett erhalten. Das Papier stammt vom Musikalienhändler Lard-Esnault in der Rue Feydeau. Kunden dort waren auch andere Größen wie Charles Gounod, Camille Saint-Saëns und Claude Debussy. Ob Zinnen sie persönlich kannte, ist unbekannt.

Auch die Widmungen deuten auf einen Verkehr in besseren Kreisen hin: Fatma. Danse persane ist dem renommierten Luxemburger Naturwissenschaftler Guillaume Capus (1857-1931) gewidmet. Zinnens Verbindungen in der Pariser high society reichen bis zum chinesischen Botschafter Xu Jingcheng (1845-1900), dem das Klavierstück La Pékinoise dediziert ist.

Zuweilen wird in der Zinnen-Biographik vergessen, dass er einer sozialen Elite angehörte. Stattdessen wird der Fokus auf sein Talent und seine Tüchtigkeit gelegt und nicht auf die Möglichkeiten, die sich aus seinen exzellenten Beziehungen ergaben. Leider verschwinden in diesem Zuge weitere – musikalische – Details, die weit wichtiger für das Kulturerbe unseres Landes wären. Der 200. Geburtstag Zinnens, der im Jahr 2027 begangen wird, wäre eine Gelegenheit, sich vertieft kritisch mit seinem Leben und Werk auseinanderzusetzen.

Erschienen in Die Warte, 16. März 2023, S. 10.

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