Zur Anzahl der Inkunabeln in der Nationalbibliothek

Zimeliensammlung

Jean-Marie Reding

Was ist eine Inkunabel? Als Inkunabeln (lat. incunabula = Windeln, Wiege, daher auch „Wiegendrucke“ genannt) werden alle typographisch erzeugten Druckwerke vom Beginn der europäischen Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern um Johannes Gutenberg (1450) bis zum 31. Dezember 1500 bezeichnet. Sie sind besonders wertvoll für die Geschichte der Buchdruckerkunst, denn ihre Gestaltung war wegweisend für die gedruckten Bücher von heute. Ihre Zahl beläuft sich aktuell auf ca. 28.000 Titel (ca. 450.000 Bände) weltweit.

Die Nationalbibliothek Luxemburg besaß und besitzt Inkunabeln. Das letzte im September 2022 von BnL-Mitarbeiter Max Schmitz zusammengestellte Inventar verzeichnet einen Gesamtbestand von 201 Titeln, die sich auf 166 Bände verteilen. Hinzu kommen noch Fragmente von Inkunabeln. Allerdings zirkulierte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Zahl von über 400 Exemplaren. Woher stammt diese?

201 oder 468?

In Vorbereitung auf eine Tagung zur NS-Bibliothekspolitik in Europa, das vom 27. bis 29. Oktober 2022 in der Nationalbibliothek stattfand, kamen Zweifel an der Anzahl der Inkunabeln auf, da die Nationalsozialisten laut Aktenlage (Bundesarchiv R 4901/13703, Schreiben N°255.41 des Ministerialrates Rudolf Kummer an den Regierungspräsidenten Heinrich Siekmeier, datiert auf den 25.01.1941) von angeblich 468 vorhandenen Inkunabeln ausgingen.

Der Autor dieser Zeilen wühlte sich daraufhin durch die Vorkriegsquellen. Vermutlich erstmals 1904 erwähnte das Illustrierte Woerl-Reisehandbuch für Luxemburg (5. Aufl., S. 38 / 1. Aufl., S. 73) genau 465 Inkunabeln. Die Zahl wird in der zweiten (1914) und dritten (1934) Auflage nicht variieren. 1910 sprach auch der luxemburgische Urheberrechtsexperte Charles Dumont in seinem Exposé des principes de la Convention internationale de Berne von „près de 400 incunables“. Das Minerva-Handbuch 1933 (Abt. 1, Bd. 1), Hauptquelle der NS-Bibliotheksfunktionäre, berichtete von 468 Wiegendrucken.

Wer hatte diese Zahlen in die Welt gesetzt? Es gab nämlich auch anderes Zahlenmaterial. So veröffentlichte Jean-Pierre Stein einen Länderbericht über Luxemburg in der Minerva-Zeitschrift, Zentralblatt für die gelehrte Welt, Juni 1932, und nannte lediglich 250 Inkunabeln. Der Publizist Tony Kellen, der in seiner Karriere auch einmal vom Nationalbibliotheksleiterposten träumte, rechnete in der Jonghémecht (7. Jg., Nr. 4-6, S. 121-122) von Mai-August 1933 mit ebenfalls ca. 250 Bänden.

Die Fehlerquelle

Der BnL-Handschriften-Abteilungsleiter konnte angesichts dieser Zahlen nicht ruhen, bevor die Ursache nicht ausgemacht war. Innerhalb kurzer Zeit wurde von ihm die Ur-Fehlerquelle diagnostiziert: Ein unbekannter Autor hatte einfach alle Werke in dem von Nicolas Muller 1893 herausgegebenen Catalogue descriptif des incunables de la Bibliothèque de Luxembourg zusammengezählt. Der auf der ersten Seite des Vorworts [S. III] enthaltene Hinweis, dass „les titres des ouvrages parus avant 1536“ im Bandkatalog mitinbegriffen waren, hatte der Ur-Abschreiber übersehen oder nicht verstanden.

Der 1893er Katalog war nach Titeln durchnummeriert. Das letzte Werk auf Seite 188 betrug die Nummer 464 [i.e. 465]. Insgesamt wurden den zwischen 1472-1500 erschienenen 87 Inkunabeln (plus 1 Dublette) mindestens 309 Postinkunabeln aus den Jahren 1501-1535 hinzugesellt. 70 Titel waren 1893 von Nic. Muller als undatiert eingeordnet worden. Daraus wurde ersichtlich, dass die Zahl eines Bestandes von über 400 Wiegendrucken aus der Luft gegriffen war. Dass die Nationalsozialisten der damaligen „Landesbibliothek“ irgendwelche Wiegendrucke gestohlen hätten, kann ausgeschlossen werden. Auch andere Dokumente belegen, dass der vom damaligen Leiter Alexander Röder für nach Kriegsende beabsichtigte Transport der Inkunabeln aus der 1940 in „Landesbibliothek“ umbenannten Nationalbibliothek nach Trier nie zustande kam.

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