Der Zeichner als Zeitzeuge Pierre Bergems Pionierarbeit 'De lânge Wé' (1946)
Das nach 1945 noch relativ junge Medium des Comics inspirierte sich überraschend früh an den Schrecken des Zweiten Weltkrieges. In den USA brachte Comicikone Superman die Nazis bereits 1940 zur Strecke, also gut ein Jahr bevor die Weltmacht offiziell in den Konflikt eintrat. Captain America, ein anderer amerikanischer Superheld, wurde eigens erschaffen, um in bebilderter Propaganda gegen die Achsenmächte vorzugehen und den patriotischen Impetus der Bevölkerung zu stärken. Auch populäre Zeichentrickfiguren wie Mickey Mouse und Bugs Bunny dienten der Kriegs- und Propagandamaschine.
Weniger utilitaristisch, dafür künstlerisch überzeugender ging Art Spiegelman vor: Seine autobiografische Graphic Novel Maus, die zwischen 1980 und 1991 erschien, stellt wohl die ästhetisch prägnanteste Verarbeitung des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts in Bilderform dar; in ihr werden die Nazis als Katzen und die Juden als Mäuse verbildlicht.
Kaum bekannt ist, dass auch in Luxemburg ein junger Zeichner sich bereits 1946 an einer grafischen Aufarbeitung der Okkupation Luxemburgs durch die Nazis versuchte. Der Comic De lânge Wé erschien zwischen Januar und September 1946 in siebzehn Ausgaben in der von der Ligue des conscrits luxembourgeois réfractaires au service militaire allemand verlegten Publikation Ons Jongen. Unterzeichnet wurde er von „P. Bergem“. Abgleiche des Zeichenstils mit anderen Arbeiten haben ergeben, dass es sich hierbei um Pierre Bergem handeln muss, einem 1928 in Bettemburg geborenen Berufssoldaten, der 1954 als Leutnant der luxemburgischen Armee vereidigt wurde. 1979 wurde er zum Vertreter Luxemburgs beim NATO-Militärausschuss in Brüssel ernannt. Im Rang eines ‚Colonel‘ ging er 1983 in den Ruhestand. Bereits früh machte Bergem als Zeichner auf sich aufmerksam. 1944 wurden Skizzen des damals 16-Jährigen im Luxemburger Wort (30. Dezember 1944) abgedruckt. 1994 veröffentlicht er unter dem Titel Skizzen aus dem Krieg seine während der deutschen Okkupation angefertigten Bleistiftillustrationen, die sich durch einen ausgeprägten Sinn für Details und eine präzise Beobachtungsgabe auszeichnen.
De lânge Wé erzählt die Odyssee eines jungen Luxemburgers, der, um der Zwangsrekrutierung zu entkommen, das Land verlässt und dem Maquis beitritt. Von dort verschlägt es ihn nach Tunesien, wo er sich den amerikanischen Truppen anschließt und später an der Landung der Alliierten in der Normandie teilnimmt. Über Paris gelangt er zurück nach Hause. Sein von einem Kollaborateur verratener Vater ist zwischenzeitlich im KZ Dachau inhaftiert worden. Zusammen mit den Amerikanern befreit er das Lager, rächt seinen Vater und kehrt nach Luxemburg zurück.
Bereits diese kurze Inhaltsangabe macht deutlich, dass es dem 19-jährigen Autor nicht auf eine realitätsgetreue Nacherzählung der Kriegsgeschehnisse ankam: Die von unglaubwürdigen Zufällen gespickte Reise des Luxemburgers deckt fast alle zentralen Kriegsschauplätze ab. Der Hauptprotagonist ist ein gängiger Comic-Held, immer Herr der Lage und jedem Gegner überlegen. Dem jugendlichen Autor gelingt es dabei geschickt, die eigenen autobiografischen Erfahrungen im besetzten Luxemburg ästhetisch zu verarbeiten und mit tradierten Mustern der ihm wohlbekannten zeitgenössischen Abenteuercomics zu verknüpfen. So entsteht ein durchaus ansprechendes Hybrid-Narrativ, das sich im Spannungsfeld zwischen erwartbaren narrativen Mustern und Zeitzeugenschaft verorten lässt.
Über seinen Wert als historisches Zeitdokument hinaus, überzeugt das Werk heute vor allem durch seine grafische Gestaltung: Ein einprägsamer Zeichenstil, der die Limitierungen des Schwarz-Weiß-Drucks für ein gekonntes Spiel mit Licht und Schatten nutzt, sowie eine Erzählform, die sich bisweilen auf rein Visuelles fokussiert und Text in zentralen Momenten nur sporadisch einsetzt, wie etwa bei der in impressionistischen Vignetten wiedergegebenen Landung in der Normandie (vgl. Abb.). Die realitätsgetreue Darstellung der Uniformen, Waffen und Fahrzeuge zeugen von einer großen Sachkenntnis des Autors. Es überrascht demnach kaum, dass er sich in seinem späteren Leben für eine militärische Laufbahn entschieden hat.
Nach De lânge Wé veröffentlichte Bergem zwischen 1947 und 1951 noch einige prägnante Schwarz-Weiß-Skizzen des bäuerlichen Lebens im Marienkalender sowie den Comic Tom’s Abenteuer in der Kinderzeitung der Lëtzebuerger Kanneraktioun (Luke Haas: Comics in, aus und über Luxemburg, 2007, S. 25.). Etwa zeitgleich entstehen auch Werbeposter für die Loterie Nationale. Danach verliert sich die Spur des aufstrebenden Zeichners jedoch wieder. Zurück bleibt ein Erstling, der in der luxemburgischen Comic-Landschaft Pionierarbeit geleistet hat.
Erschienen in Die Warte, 26. Januar 2023, S. 4.
Zum letzten Mal aktualisiert am