Aufklärung über Atomwaffen als medizinische Prävention Der Luxemburger Kinderarzt Emile Tockert und die „Résistance médicale aux armes nucléaires“
Anfang der 1980er Jahre verhärteten sich die Fronten des Kalten Krieges erneut. Die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen („SS-20“) entlang des Eisernen Vorhangs wurde seitens des Westens 1979 mit dem Nato-Doppelbeschluss beantwortet. Zusätzliche Mittelstreckraketen in Westeuropa sollten das militärische Gleichgewicht wiederherstellen, aber die daran geknüpften Abrüstungsverhandlungen scheiterten. Die US-amerikanische Reagan-Regierung stellte infolge mit ihrer Rhetorik über neuartige Technologien im Rahmen der Strategic Defense Initiative den Status quo des atomaren Gleichgewichts jedoch grundsätzlich in Frage.
Boden-, wasser-, luft- und selbst weltraumgestützte Waffensysteme sollten einen undurchdringbareren Schutzschirm gegen atomare Angriffe bilden. Abseits der Debatten über die technische Durchführbarkeit eines solchen Programmes befürchteten Kritiker den Anstoß zu einer neuen atomaren Aufrüstungsspirale. Das prekäre „Gleichgewicht des Schreckens“, das angesichts des gegenseitigen Vernichtungspotentials den Einsatz von Atomwaffen undenkbar machen sollte, bröckelte. Die strategische Möglichkeit eines Atomkrieges stand erneut im Raum.
International demonstrierten Hunderttausende gegen die drohende Eskalation im atomaren Wettrüsten. Innerhalb dieses Klimas der Unsicherheit startete der Luxemburger Kinderarzt Emile Tockert einen Aufruf zur Gründung einer nationalen Sektion der International Physicians for the prevention of nuclear war (IPPNW). Die blockübergreifende Bewegung vereinigte Ärzte aus aller Welt, um mittels Aufklärung gegen Atomwaffen zu mobilisieren. Die Initiative Emile Tockerts traf auf ein breites Echo: mehr als 50 luxemburgische Ärzte meldeten sich, bis zu 150 (1986 etwa 20% der gesamten luxemburgischen Ärzteschaft) sollten die im September 1982 eingetragene Résistance médicale aux armes nucléaires a.s.b.l. Luxembourg in den folgenden Jahren mittragen.“
„Nuklearer Winter“ und ärztliches Ethos
Das erste, 16-seitige, Bulletin d’Information (Februar 1985) stand bereits im Zeichen dieses Informationsauftrages. Neben administrativen und organisatorischen Inhalten war das Bulletin vorrangig einem übersetzten Bericht der IPPNW gewidmet. Unter dem Titel Conséquences de la Guerre nucléaire sur la biosphère: hiver nucléaire wurden Erkenntnisse aus Atombombentests synthetisiert und Prognosen für die Auswirkungen einer atomaren Auseinandersetzung erstellt– mit alarmierenden Implikationen für Mensch und Umwelt. Bei einem Atomkrieg würde nicht nur jegliche Gesundheitsversorgung zusammenbrechen, sondern eine ökologische Kettenreaktion die überlebende Menschheit in einen „nuklearen Winter“ stürzen. Durch den massiven Einsatz von Atomwaffen würden aufgewirbelte Partikel vermehrt das Sonnenlicht in der Atmosphäre reflektieren und zu einer globalen Abkühlung führen. Hungerkatastrophen wären nur eine der Folgen. Die Rhetorik der Résistance médicale aux armes nucléaires blieb dabei ihrem medizinischen Hintergrund verhaftet. Ein Atomkrieg wurde als „letzte Krankheit“ der Menschheit verstanden, Atombomben als ihr „Bazillus“. Innerhalb dieses Vokabular spiegelte sich einerseits der wissenschaftliche Autoritätsanspruch der Mediziner wider, andererseits sollten das militärisch-technische Vokabular der Atomkrieg-Debatte für die breite Bevölkerung auf ein verständliches Niveau heruntergebrochen werden.
Als Präsident der Sektion verschrieb sich der in Petingen geborene Emile Tockert jahrelang der Informationskampagne. Den Mitgliedern der Bewegung wurde eine wachsende Sammlung wissenschaftlicher Informationsdokumente zur Verfügung gestellt. Gleichzeitig wurde aktiv der Kontakt zur Bevölkerung gesucht. Denn im Falle eines Atomkrieges wäre der Heilauftrag der Ärzte nicht länger ausführbar. Das einzige Vorgehen gegen die „unheilbare Krankheit“ Atomkrieg? Prävention! Mitte der 1980er Jahre hielt Emile Tockert 3 bis 4 Vorträge pro Monat in Schulen und Vereinen, sensibilisierte entlang aller Altersgruppen für die Thematik.
Der Bevölkerung sollten die komplexen Folgen des Einsatzes von Atomwaffen verständlich und eindringlich erläutert werden. Das so geschaffene Bewusstsein für die immanente Gefahr sollte den Widerstand gegen Nuklearwaffen jeglicher Art anregen, um national und international Druck auf die Politik auszuüben. Kurzfristig wurden atomare Teststopps angestrebt, langfristiges Ziel war eine atomwaffenfreie Welt. Denn auch ohne deren Einsatz würden die enormen Kosten der Aufrüstung Ressourcen verschlingen, die an anderer Stelle fehlten, beispielsweise in der Forschung oder bei humanitären Projekten.
Humanitärer Einsatz über den Kalten Krieg hinaus
Heute blickt Emile Tockert zufrieden auf diese Periode des internationalen Austauschs und humanitären Einsatzes inmitten des Kalten Krieges zurück. Im Gespräch betonte er die Bedeutung der Aufklärungsarbeit auf Augenhöhe, um dem technokratischen Diskurs das Menschliche entgegenzuhalten. Die Themen Umwelt und Gesundheit lägen in den Händen der Gesellschaft. Umwelt, Medizin und Politik seien im Angesicht des Zerstörungspotentials von Nuklearwaffen untrennbar. Dem gesellschaftlichen Status als Vertrauensperson leitete Emile Tockert als Arzt ein politisches Verantwortungsbewusstsein ab. 1985 erhielt die IPPNW den Friedensnobelpreis für ihre Aufklärungsarbeit. 1987 wurde mit dem INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) zwischen den USA und der Sowjetunion eine Grundlage der Entspannungs- und Abrüstungspolitik gelegt. Während die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit sich neuen Herausforderungen zuwandte, behielten die medizinischen Auswirkungen der Nukleartechnik für Emile Tockert bedauerliche Aktualität. Anlässlich des 10. Jahrestages der Explosion des sowjetischen Kernkraftwerks Tschernobyl sammelte er Spenden für betroffene Kinder, reiste im gleichen Jahr in das Katastrophengebiet. In seinem Bericht über die Tschernobyl-Sperrzone hielt er fest: „Die Nukleartechnik liegt außerhalb des Verantwortungsvermögens des Menschen“. (Regulus 1998/1, S. 17) Mit dem erneuten Aufkommen atomarer Drohungen im Kontext des Ukraine-Krieges haben die Warnungen der Résistance médicale aux armes nucléaires, gegen eine Desensibilisierung des Einsatzes von Atomwaffen und einer dehumanisierenden Rhetorik, Nichts an Relevanz verloren.
Erschienen in Die Warte, 14. Dezember 2023.
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