Der Komponist René Hemmer 1919-2019*

Musikbestand des Cedom

Elisabeth Wirtz-Lemmel

Leben

René Hemmer wurde am 27. Dezember 1919 in Rodingen geboren. Sein Vater war Walzendreher auf der Hütte in Differdingen. Seine ersten musikalischen Schritte machte Hemmer in der Harmonie Differdange, wo recht bald seine musikalische Begabung auffiel. Um sich ganz der Musikausbildung widmen zu können, brach er schließlich die Schule ab und schrieb sich am Städtischen Konservatorium ein.

René Hemmer war Musiker in der Musique Militaire Grand-Ducale, sowie als Chor- und Orchesterdirigent tätig und unterrichtete an verschiedenen Musikschulen. Zeitlebens setzte er sich für die Aufführung zeitgenössischer Musik ein und war Mitbegründer des Orchestre de Chambre de Luxembourg und der Luxemburger Gesellschaft für Neue Musik (LGNM). Der Vater von zwei Söhnen starb am 9. September 2019 mit fast 100 Jahren in seinem Haus in Zessingen.

*Soweit nicht anders vermerkt, stammen alle ausgestellten Dokumente aus dem Fonds René Hemmer der BnL.

Berufliche Stationen

34 Jahre Musiker der Musique Militaire Grand-Ducale

René Hemmer wünschte sich schon als Kind nichts sehnlicher, als in die Musique Militaire Grand-Ducale aufgenommen zu werden. Bereits mit 16 Jahren schrieb er sein erstes Bewerbungsschreiben. Fünf Jahre später, im April 1941, ging sein Wunsch in Erfüllung, und er trat unter dem Dirigenten Albert Thorn in die Militärmusik ein. Zuerst wurde er als Trompeter eingestellt und später zum Solo-Flügelhornisten ernannt. Er erlebte 1960 den Dirigentenwechsel zu Norbert Hoffmann und ging schließlich 1974 als Sous-chef unter dem Dirigenten Pierre Nimax sen. nach 34 Jahren Dienstzeit in den Ruhestand. 

22 Jahre Dirigent der Harmonie Rodange

Als die Harmonie Rodange 1957 ihr 75-jähriges Bestehen feierte, schrieb René Hemmer den Marche de Fête. Hemmer war damals bereits seit drei Jahren Leiter der Harmonie seiner Heimatstadt. Begleitend dazu gab er den Musikern Solfège-Unterricht. 1976 ging er nach »10.000 heures d’enseignement […] à la tête de l’harmonie Rodange«* in den Ruhestand. 

*Dix mille heures de cours pour M. René Hemmer, chef de l’Harmonie municipale. In: Le Républicain lorrain, 22.11.1973, S.6.

14 Jahre Lehrer an der Musikschule in Petingen

1968 wurde die Musikschule in Petingen eröffnet, und René Hemmer gehörte zu ihren ersten Lehrern. Es waren dort zunächst nur Solfège-Kurse vorgesehen, aber »nach Umfrage bei den Schülern wurde die Notwendigkeit von Instrumentalkursen erkannt«*. René Hemmer war Chargé de cours für Trompete, Flügelhorn und Solfège und unterrichtete bis zu seiner Pensionierung im Alter von 63 Jahren.

*N.C.: Ernennung der Kursusleiter der neuen Petinger Musikschule. In: Tageblatt, 14.07.1969, S. 5.

L’école de musique a ouvert ses portes. In: Le Républicain lorrain, 09.10.1968, S. 7.

16 Jahre Dirigent der Chantres Saint Joseph in Zessingen

Von 1957 bis 1973 leitete René Hemmer den Kirchenchor Saint Joseph in Zessingen, der anfangs in der Kirche noch als vierstimmiger Männerchor auftrat und später ein weltlicher gemischter Chor wurde. 

Dirigentenehrung in Cessingen. In: Luxemburger Wort, 23.09.1967, S. 9.

1940-1945: Hemmers Rolle im 2. Weltkrieg

Als die Nationalsozialisten im Mai 1940 Luxemburg besetzten, arbeitete René Hemmer wie sein Vater auf der Hütte in Differingen. Als er ein Jahr später die Stelle als Militärmusiker annahm, war es ihm möglich, ein berufliches Pflichtprogramm zu absolvieren, ohne in eine nationalsozialistische Organisation eintreten zu müssen. Im November 1942 schließlich trat er einer der im Untergrund agierenden Widerstandsgruppen bei, der Letzeburger Vollekslegio‘n, die später durch den Zusammenschluss mit zwei weiteren Widerstandsgruppen zur Unio'n vun de Lëtzebuerger Fräiheetsorganisatiounen (Unio'n) wurde.

»Am Abend des 3. Juli 1944, während er in einer Aufführung des Rosenkavaliers in Trier Trompete spielt, wird er von der Gestapo verhaftet. Er betrieb Spionage und wurde verraten. In der Villa Pauly wird er verhört, entgeht aber mangels Beweisen der Deportation ins KZ. Durch seine dienstlichen Fahrten an die Oper Trier war es ihm gelungen, Details über die Beschaffenheit deutscher Truppen zu beobachten und weiterzugeben. Hemmer kommt ins Grundgefängnis, wo damals politische Gefangene eingesperrt wurden. Als am 1. September 1944 der Krieg in Luxemburg vermeintlich zu Ende ist, werden 150 Häftlinge entlassen. Hemmer steht nicht auf der Liste. Als sich am Abend desselben Tages abzeichnet, dass die Nazis doch wieder zurückkehren, öffnet ihm ein geistesgegenwärtiger Wärter noch schnell die Zellentür.«*

*Elisabet Wirtz-Lemmel: Tagebuch eines vergessenen Komponisten. In: Die Warte, 22.10.2020, S.4.

Carte de résistance: Unio’n vun de Letzeburger Freihétsorganisatio’nen. Luxemburg, 26.09.1944.

Tagebuch

René Hemmer hinterlässt in seinem Nachlass seine Memoiren, die er niederzuschreiben begann, als er 1944 im Gefängnis saß. Er beschreibt darin zunächst rückblickend recht ausführlich seine Kindheit und die Kriegsjahre und führt seine Erinnerungen dann eher kurz gefasst weiter bis zum Alter von 89 Jahren. Das 138-seitige Tagebuch ist auf Deutsch und vorwiegend mit Schreibmaschine geschrieben. 

Tagebuch René Hemmer. Unveröffentlicht, 1944-2008, S.1.

Werk

Seine erste erhaltene Komposition schrieb René Hemmer mit 29 Jahren, einen Marsch zur Geburt seines Sohnes Claude. In der Folge entstanden mehr als 90 Kompositionen, darunter 20 Werke für Sinfonieorchester, 21 kammermusikalische Werke, 8 Vokalwerke und 7 Stücke für Soloinstrumente.

Nach seiner musikalischen Ausbildung am Städtischen Konservatorium besuchte er keine weiterführende Musikhochschule, sondern lernte von nun an autodidaktisch. Seine frühen Kompositionen waren von Igor Stravinsky, Béla Bartok und Dimitri Schostakowitsch beeinflusst und somit dem neoklassizistischen Stil verwandt. Auf der Suche nach einer neuen Tonsprache stieß er in den 1960-Jahren auf die Zwölftontechnik und wurde somit Luxemburgs erster Zwölftonkomponist. In seinen späteren Kompositionen ließ sich Hemmer eher von Emotionen leiten und verwendete die Zwölftontechnik nur noch gelegentlich.

Mit 76 Jahren schrieb er seine letzte Komposition: Solitaire, ein Werk für Cello solo.

Fast alle Werke Hemmers wurden aufgeführt, manche auch im Ausland. Viele wurden bei R.T.L. unter Louis de Froment, Pierre Cao oder Marcel Wengler eingespielt. Einige wenige Werke wurden ediert.

Erfolge im Ausland

Anlässlich der Olympischen Sommerspiele 1952 in Helsinki fand auch ein olympischer Kunstwettbewerb statt, in dem Hemmers Komposition Olympia: prélude pour orchestre ausgestellt wurde. Leider gilt dieses Werk seitdem als verschollen.

Im Jahre 1976 fuhr eine Delegation Luxemburgischer Komponisten nach Wien, um das Musikland Luxemburg vorzustellen: René Mertzig, Alexander Mullenbach und René Hemmer, der im Konzertsaal der Österreichischen Nationalbibliothek seine Scènes für Klavier zur Aufführung brachte.

Das Musikfestival World Music Days widmet sich zeitgenössischer Musik und findet jedes Jahr in einem anderen Land statt. René Hemmers Kompositionen wurden gleich mehrmals dort gespielt: 1996 in Kopenhagen (Streichquartett Flüchtig wie Wind und Welle), 2000 in Luxemburg (Saxophonquartett Coup de dés) und 2001 in Yokohama (Japan) (Solitaire für Violoncello solo).

René Hemmers Musik auf CD

Die LGNM hat dem Komponisten René Hemmer zwei CD’s gewidmet. Sie geben einen Einblick in die Werke Hemmers und zeigen einen Komponisten, der nicht nur Intellekt, sondern auch Humor besitzt.

René Hemmer et al. Portrait René Hemmer. Éd. LGNM, 1998 (BnL, 3.0 HEM).

Die erste CD kam 1998 in den Handel und enthält Archivaufnahmen mit dem R.T.L.-Orchester zwischen 1965 und 1995, eine Rezension darüber erschien 1999 im Lëtzebuerger Land

René Hemmer et al. Portrait René Hemmer. Ed. LGNM, 2004 (BnL, 3.0 HEM).

Die zweite CD wurde 2004 anlässlich von René Hemmers 85. Geburtstag herausgegeben und enthält Einspielungen aus den Jahren 1982 bis 2000. Beide CD’s sind in der Bibliothèque nationale du Luxembourg ausleihbar. 

José Voss: René Hemmer le pionnier. In: Lëtzebuerger Land, 08.01.1999, p.13.

Luxemburgs erster Zwölftonkomponist

Warum Zwölftonmusik?

Vor 100 Jahren versuchte Arnold Schönberg Stücke zu komponieren, bei denen sich keine Grundtonart mehr feststellen lässt, und entwickelte die Zwölftonmusik. Diese stellt neue Anforderungen sowohl an die Musiker als auch an die Hörer, und stößt bei diesen nicht selten auf Unverständnis oder gar Ablehnung. Leicht hatte es sich René Hemmer also nicht gemacht, als auch er in den 1960er-Jahren nach einer neuen Tonsprache suchte, da er nicht mehr so komponieren wollte, wie es die Luxemburger Komponisten vor ihm getan haben.

Was macht die Zwölftonmusik so schwierig?

Die meisten Kompositionen, die wir hören, sind in einer bestimmten Tonart (Dur oder Moll) zuhause, welches uns das Zuhören erleichtert. In der Zwölftonmusik geht es genau darum, dieses sichere Zuhause aufzugeben.

Als Ausgangspunkt für eine Zwölftonkomposition nimmt ein Komponist alle zwölf Töne einer chromatischen Tonleiter:

Diese zwölf Töne reiht er dann so aneinander, wie es ihm gefällt (Grundreihe). Dabei darf jeder Ton nur einmal vorkommen. Folgendes Notenbeispiel stellt die Zwölftonreihe dar, die Hemmer sich für seine Komposition Scènes pour 15 instruments ausgedacht hat:

In der Komposition muss die Reihenfolge der einzelnen Töne erhalten bleiben. Im weiteren Verlauf des Stückes beginnt ein Zwölftonkomponist dann, die Grundreihe zu variieren, etwa indem verschiedene Instrumente diese Reihe zeitlich versetzt wie in einem Kanon beginnen, oder indem scheinbar neue Reihen entstehen, etwa, wenn die 12 Töne der Grundreihe von hinten nach vorn gereiht werden (Krebs) oder die Grundreihe um eine horizontale Achse gespiegelt wird (»Glace«).

Anhand der Reihen, die Hemmer für die Scènes pour 15 instruments notiert hat, kann diese Technik gut nachvollzogen werden:

In zahlreichen Kompositionen nimmt Hemmer Zwölftonreihen als Ausgangsmaterial (3ème Sinfonie:  Novarum rerum cupidus, Essaï 1 et 2, Sinfonia da camera, KryptosMiniatur-Ouverture u.a.).

Wirkung

Lettre ouverte

Trotz der Erfolge, die Hemmer als Komponist kannte, kämpfte er zeitlebens um die Akzeptanz seiner Werke im öffentlichen Konzertleben. Zeitgenössische Musik stand damals wie heute selten auf dem Konzertprogramm. Der »Offene Brief an R.T.L.«, verfasst von Hemmer unter dem Kürzel »R.H.«, ist ein Hilferuf.  

»Ich hab mich schon damit abgefunden, nicht zu optimistisch zu sein…«

Um die Luxemburger Komponisten besser ins Rampenlicht zu stellen, begann der Journalist Loll Weber im Jahr 1978 im Luxemburger Wort eine Serie über Luxemburger Komponisten. René Hemmer war der erste, den er portraitierte. Das Interview zeigt einen mutigen und selbstbewussten, aber auch desillusionierten Komponisten, der den Weg als Zwölftonkomponist alleine gehen muss.

Loll Weber: Compositeurs luxembourgeois (1). René Hemmer. »J’ai appris à ne pas trop espérer, tant mieux si…«. In: Luxemburger Wort, 19.4.1978, S. 4.

Une vie d’homme

Eines seiner letzten sinfonischen Werke ist die Trilogie Une vie d’homme. Hier verwendet René Hemmer die Zwölftontechnik nur noch als Stimmungsmittel.

»Hemmer gibt, de facto, ein Programm zu seinem Werk: Der Mensch – er selbst? – lebt inmitten der Natur, der Umwelt, als Kind, als glücklicher Mensch, als Verfolgter, als Misshandelter, wird leidend, resigniert und ist dem Tod anheimgegeben. Die Schrift des Werkes ist zum Teil wieder traditionell, nur in den Episoden des Leidens und der Resignation greifen serielle Motive ein.«*

*Guy Wagner: Luxemburger Komponisten heute. Echternach: Editions Phi 1986, S.46.

René Hemmer : Une vie d’homme. Zessingen, 1979.

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