Vielseitig, vielfältig, vielschichtig Die Künstlerbuchsammlung der BnL

Ikonografische Sammlung

Michèle Wallenborn

Eine wenig bekannte Sammlung innerhalb der Bestände der Nationalbibliothek bekommt dieser Tage dank der Veröffentlichung des Kataloges Vielseitig –Multiple ihre verdiente Wertschätzung: die Künstlerbuchsammlung. Sie entstand zunächst aus einem Fundus an Kunsteinbänden bibliophiler Literaturausgaben unter der Leitung von von Émile van der Vekene. Der Ausbau zu einer umfassenderen Buchkunstsammlung begann ab den 1990er Jahren unter Malou Georges-Majerus. Mehr als 270 luxemburgische sowie knapp 1600 internationale Künstlerbücher werden bis heute in der BnL aufbewahrt, so dass dieser multimediale Aspekt der Auseinandersetzung mit dem Buch heute einer breiten Öffentlichkeit an einem Ort der Bewahrung, des Austausches, des Studiums und der Vermittlung zugänglich gemacht werden kann.

Ein Sammelauftrag für Künstlerbücher an großen, insbesondere wissenschaftlichen Bibliotheken ist keine Selbstverständlichkeit, obwohl sie zunehmend Interesse wecken. Zur patrimonialen Aufgabe einer Nationalbibliothek im engeren Sinne gehört er auch nicht zwingend, aber der Aufgabe, die Zeichen der Zeit, den Zeitgeist zu dokumentieren, wird diese Sammlung gleichwohl gerecht.  Was die Zeitgenossen bewegt, auch im Kunstbereich, findet seinen Nachhall im künstlerischen Umgang mit dem Buch. So schufen etwa zwischen den Weltkriegen Avantgarde-Künstler Bücher, um ihren künstlerischen Bestrebungen Ausdruck zu verleihen. Sie gehörten zur Arts-and-Crafts-Bewegung oder sie waren den Kunstrichtungen Dada, Konstruktivismus, Futurismus, dem deutschen Expressionismus, Surrealismus oder viel später dem Fluxus zuzuordnen. Insbesondere seit den 1960er Jahren wurde die Buchform für viele Künstler zunehmend zum Kommunikationsmedium ihrer künstlerischen und sozialen Überzeugungen. Zu dieser Zeit entstand in einem Klima von politischem Aktionismus auch die Bezeichnung Künstlerbuch. Diese konzeptuellen Bücher wollten dem etablierten Kunstsystem entgegentreten und zielten auf eine Dematerialisierung der Kunst.

So schrieb der in den Niederlanden lebende mexikanische Künstler und Schriftsteller Ulises Carrión 1975 im Aufsatz Die neue Kunst des Büchermachens: „bücher können jede (geschriebene) sprache, nicht nur die literarische sprache, sondern jedes andere zeichensystem enthalten.  […] [U]nter den sprachen ist die literarische sprache (prosa und dichtung) nicht die für die natur des buches am besten geeignete. […] [E]in buch kann auch als autonome und autarke form existieren, indem es vielleicht einen text enthält, der seine Form betont, einen text, der einen organischen bestandteil der form bildet: hier beginnt die neue kunst des büchermachens.“

Im Fokus steht daher die Schnittstelle zwischen Buch und Kunst, als ästhetisches Objekt jenseits des Gebrauchswertes von Büchern Für viele bildende Künstler hat das Medium Buch den Reiz des Mehrdimensionalen, des haptisch Erfahrbaren und der großen plastischen Präsenz des Geschaffenen. Die Konvergenz von mehreren künstlerischen Disziplinen zielt unbewusst auf eine Art Gesamtkunstwerk ab, obwohl dieses Werk oft nur zwischen zwei Buchdeckeln existiert.

Die bibliophilen Schätze der BnL bieten diese andere Sicht auf das Künstlerbuch und seine Vielzahl an Gestaltungsformen, die seit mehr als 100 Jahren immer neu interpretiert werden und sowohl Künstler als auch Sammler gleichermaßen faszinieren, ob es sich um bibliophile Werke, livres de dialogue, Malerbücher der klassischen Moderne, konzeptuelle Künstlerbücher, Unikatbücher, Kleinstauflagenwerke oder um Buchobjekte handelt.

Mit einer historischen und typologischen Annäherung an das Künstlerbuch und die Buchkunst im Allgemeinen liegt nun eine kurzweilige Geschichte dieses Mediums vor.  Ein wichtiges Anliegen ist es, für die Vielfalt der Sammlung zu sensibilisieren, alle Formen – gebundene Bücher, verfremdete Bücher, Leporellos, lose Blättersammlungen, Papierrollen, Pop-up- oder Cut-out-Bücher –, alle Stile, alle Themenbereiche und Techniken für Interessierte bereitzustellen.

Dem Künstlerbuch in Luxemburg kommt eine besondere Aufmerksamkeit zu, vor allem ab den 1970er Jahren, als eine Reihe begeisterter Verleger, Galeristen und Künstler z. B. Jean Vodaine, André Biren, André Simoncini, Jean Aulner, Francis Van

Maele oder Lucien Schweitzer Buchprojekte über lange Jahre hinweg geradezu idealistisch förderten.

Erschienen in Die Warte, 10. Dezember 2020, S. 5.

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