Eine „Bibliothèque nationale“ im Jahre 1802? Über die Geschichte einer Bibliotheksbezeichnung

Sammlung zur Luxemburger Bibliothekslandschaft und Buchgeschichte

Jean-Marie Reding

1846 gab Nicolas Clasen, „Conservateur“ der Stadtbibliothek Luxemburgs (und heutigen Nationalbibliothek) einen ersten Bandkatalog, d.h. einen Katalog in Buchform, heraus. Außer einer 7-seitigen unterhaltsamen Notice historique der Bibliothek (S. V-XI) enthält der bei Lamort erschienene Catalogue des livres et des manuscrits de la Bibliothèque de Luxembourg auf den Seiten 511-514 ein interessantes Verzeichnis mit 84 Buchtiteln: die Notice des manuscrits qui se trouvaient déposés à la Bibliothèque nationale de Luxembourg, et qui ont été enlevés par les Commissaires délégués ad hoc par le Ministère de l’Intérieur de la République française, le 19 vendémiaire an XI. Es handelt sich um eine Abnahmebescheinigung der Regierungskommissare Jean-Baptiste Maugérard und J. E. Ortolany. Mit diesem Titel wurde eine Bezeichnung eines Archivdokumentes, der Quittance Maugérard (BnL Ms 805A, Fasc 7, 11.10.1802), übernommen.

Die Bibliothek war am 1. April 1798 als Bibliothèque de l'Ecole centrale (Grundlage: Gesetz 25.10.1795) eröffnet worden. Jedoch wurden die Ecoles centrales bereits vier Jahre später per Gesetz vom 1. Mai 1802 aufgelöst. Am 11. Oktober 1802 tauchten die Regierungskommissare in einer ehemaligen staatlichen Schulbibliothek auf, die kurz vor der Kommunalisierung stand. Der berüchtigte Maugérard beschlagnahmte rechtzeitig die wertvollsten Bände und verbrachte sie in die französische Nationalbibliothek, wo sie bis heute aufbewahrt sind.

Nur fünf Tage später, samstags, wurde die Bibliothek der ehemaligen Ecole centrale versiegelt, „pour en faire la remise à l’autorité municipale“ (Arrêté, 16.10.1802). Und drei Monate nach Maugérards Besuch entstand per Dekret des 28. Januar 1803 die erste kommunale Bibliothek Luxemburgs, die „Bibliothèque de [la Ville de] Luxembourg“. Bemerkenswerter als die Beschlagnahmung vom 11. Oktober 1802 ist in diesem Zusammenhang der erstaunliche Titel der Quittung: Bibliothèque nationale de Luxembourg. Wie kam der Verfasser und französische Beamte Maugérard 1802 dazu, von einer Nationalbibliothek zu sprechen? 

Wie so oft in der Geschichte besitzen Wörter zu verschiedenen historischen Zeiten eine andere Bedeutung. In diesem Fall ist das Gesetz über die dépôts littéraires (17.09.1795) aufschlussreich, das die Gründung der „bibliothèques nationales à établir dans les départemens, de compléter la grande bibliothèque nationale [in Paris]” regelt. Dies bedeutet, dass mit „nationale” damals „de l’Etat”, d.h. in der Trägerschaft des Staates, gemeint war. Ab dem 26. April 1796 galten außerdem die Bibliothèques des Ecoles centrales und die dépôts littéraires als unzertrennlich und teilten fortan ein gemeinsames historisches Schicksal.

Diese 1802er Bibliothèque nationale de Luxembourg war also eigentlich nur eine zum französischen Staat gehörende Bibliothek in Luxemburg-Stadt, dem Zentrum des Département des Forêts, wie das Herzogtum Luxemburg seit der Annexion an Frankreich am 1. Oktober 1795 hieß.

Wie kam das Land zu seiner „Nationalbibliothek“? Durch eine kleine juristische Anmerkung des Staatsrates und ein banales Budgetgesetz könnte man sagen. In der Parlamentssitzung vom 10. März 1899 wurde sie durch die Schaffung eines neuen Budgetartikels auf den Namen Bibliothèque nationale getauft. Diese Bezeichnung kam auf Vorschlag des Staatsrats zustande. Das Staatseigentum einer vermeintlichen Stadtbibliothek sollte mit „nationale“ hervorgestrichen werden: "propriété de l'Etat", wie es der Staatsrat am 21. Oktober 1898 vermerkte (Parlamentsbericht, 1898-1899, Annexes, S. 13-18). Da war sie wieder, wie 1802, eine Bibliothek „nationale”, eine die einfach nur dem Staat gehört.

Schließlich wurde per Staatsbudgetgesetz vom 28. März 1899, Artikel 167ter, die Benennung offiziell anerkannt. Sie war übrigens eine, wenn auch schon die größte, von damals vier existierenden großen „staatlichen“ wissenschaftlichen Bibliotheken, allein in Luxemburg-Oberstadt.

Erschienen in Die Warte, 12. November 2022, S. 5.

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